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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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23.11.2005
 

Du Omi

Aus dem „Rat“ ist vorgeschlagen worden, die Kleinschreibung der privaten Briefanrede beizubehalten.
Nur für Briefe an ältere Leute soll eine Ausnahme zugestanden werden, weil diese an der respektlosen Form Anstoß nehmen könnten.
Alte Leute haben den Vorteil, daß sie bald sterben. Das ist nicht nur sozialverträglich, sondern verhilft auch der wunderbaren Rechtschreibreform zum endgültigen Durchbruch. Wir haben immer wieder lesen dürfen, daß auch auf der Seite der Schreibenden die alten Knacker bald abkratzen und die Bahn für frisch durchstartende Neuschreiber freigeben werden. Ein anderes Ratsmitglied spricht den Kultusministern das Recht ab, die Neuregelung der Briefanrede zu reparieren, weil es sich hier um privaten Schreibbrauch handele. (Aber ändern durften sie …)
Übrigens ist nach meiner Erfahrung die Kleinschreibung der Anrede "Sie" mindestens so häufig vorgekommen wie die von "Du", und sie war gravierender, weil es sich eben gerade nicht nur um Privatbriefe handelte. Seit der Reform wird "Sie" noch öfter falsch geschrieben.



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Kommentare zu »Du Omi«
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Kommentar von Der Tagesspiegel, verfaßt am 23.11.2005 um 18.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1677

»Sehen Sie sie oder sie Sie?
Brigitte Grunert über die Sprache der Politiker

Mit der schriftlichen Anrede ist es ein Kreuz, seit es die neue Rechtschreibung gibt. Es ist verwirrend, was man da alles lesen kann. Das hat wohl damit zu tun, dass viele meinen, die Großschreibung in der Anrede sei komplett abgeschafft worden, aber das ist ein Irrtum.

Die Kleinschreibung gilt ja nur für alle Duz-Formen. Man muss nicht mehr Du, Dein, Ihr, Euch, Eure und Euer schreiben. In privaten Briefen kann es natürlich jeder halten, wie er will, also beim respektvollen großen Du bleiben oder die kleinen Anfangsbuchstaben wählen. Dagegen ist die Kleinschreibung beim Siezen in allen Formen tabu. Es ist ja ein Unterschied, ob Sie sich geirrt haben oder sie sich geirrt haben. Doch da haben wir es, das reinste Durcheinander, als sei niemandem die Verwechselungsgefahr bewusst. Zum Glück hört man die falsche Klein- oder Großschreibung nicht, aber man liest sie häufig, zum Beispiel in Redemanuskripten von Politikern.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Nicolas Zimmer meinte vor dem Abgeordnetenhaus, indem er sich mit scharfer Kritik direkt an den Regierenden Bürgermeister wandte, erst wenn es zu spät sei, „versuchen sie durch schnellen Aktionismus die Dinge noch irgendwie hinzubiegen“. Und weiter: „Wenn ihr bayerischer Genosse Stiegler sie als ’Dampfplauderer’ bezeichnet, hat er recht.“ Mit dem Wort vom Dampfplauderer Wowereit hat Stiegler aber nicht recht, sondern höchstens Recht, jedenfalls nach der neuen Schreibweise, das nur nebenbei. „Übrigens passt ihr ökonomischer Geisterfahrer Herr Wolf zu ihnen und ihrem Senat“, sagte Zimmer. Wieder meinte er nicht irgendeine Frau oder irgendwelche Personen, sondern Klaus Wowereit (und mit Herrn Wolf den Wirtschaftssenator). Andererseits fragte Zimmer den Regierenden Bürgermeister orthografisch korrekt: „Was haben Sie denn... vereinbart? Auch Stefan Liebich, der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei/PDS, wandte sich zwar an „Sie, liebe Kollegen von der CDU“, beklagte sich dann aber über „ihre“ statt Ihre Haltung. Ach, beim Siezen geht es unbekümmert durcheinander, mal groß, mal klein.

In einem FDP-Antrag wurde Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten zitiert: „Die Angehörigen der Bundeswehr... leisten alle einen wichtigen – und wie wir alle wissen – oftmals sehr gefährlichen Dienst. (...) Ich denke, dass Ihnen dafür jegliche Anerkennung und Hochachtung gebührt“. Wieso Ihnen? Der Dank galt doch ihnen, denn der Kanzler sprach lobend über die Soldaten; er sprach sie aber nicht direkt an.

Man sieht: Die Großschreibung aller Siez-Formen in der Anrede ist eine weise Regel, weil sie der Klarheit dient.«


( Der Tagesspiegel, 20.11.2005 )
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 24.11.2005 um 07.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1679

Gespannt darf man schon sein, wie diese Regel in der amtlichen Formulierung lauten wird...

Aber Spaß beiseite; für die am 25. 11. stattfindende Ratssitzung, wünsche ich der Vernunft alles Gute!

Interessieren würde mich, wie so eine Sitzung eigentlich abläuft. Um in 4 Stunden (samt Mittagspause) produktiv sein zu können, bedarf es einer straffen Vorbereitung und Abwicklung. Wie kann man sich als Laie den Verlauf so eine Sitzung vorstellen?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.11.2005 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1682

Was heißt "produktiv"? Den Ablauf darf man sich so vorstellen:

Ein Themengebiet wird aufgerufen, zum Beispiel die Kommasetzung. Dann melden sich nacheinander verschiedene der ca. 30 Anwesenden zu Wort. Der erste sagt, man müsse viel ändern, und erklärt, warum; der zweite will weniger ändern und erklärt, warum es dies will, jenes aber nicht; der dritte ebenso, nur zur Hälfte umgekehrt wie der Vorredner; der vierte sagt, man solle gar nichts ändern, der fünfte, man solle nur das Notwendigste ändern, und das sei XY, der sechste stimmt zu, versteht aber unter dem Notwendigsten nicht XY, sondern YZ. Manche schweigen, nehmen nur irgendwann an den Abstimmungen teil.

Im Prinzip kommen drei Sorten von Einlassungen vor: Sehr viel ändern ("Wir müssen es hinter uns bringen, sonst reparieren wir noch zig Jahre daran herum"), gar nichts ändern ("Das verwirrt nur unsere Kinder") und ein bißchen ändern ("Stimmt beides"). Dann wird über alle möglichen Vorschläge abgestimmt. Manches wird geändert, anderes nicht. Was noch nicht in Ordnung ist, muß eben irgendwann in der Zukunft geändert werden, meinen die einen; es soll so festgeklopft werden, meinen die anderen, auch wenn es nicht ganz paßt.

In ein paar Monaten wird das noch von irgendwelchen sonstigen Leuten beraten, die auf obskure Weise hinzugezogen werden, dann vielleicht auch nochmal von Leuten im Rat, irgendwann von diversen Marionetten in den Kultusministerien, die sich überlegen, was sich in der Öffentlichkeit am besten verkaufen könnte. Dann wird das Ergebnis verkündet: Es ist die neue amtliche Rechtschreibung in neuester Fassung, die 100 Millionen Menschen tunlichst als verbindlich ansehen sollen. Andernfalls werden sie von einer eifrigen Schar von Journalisten als "alte Knacker", als "lernunwillig", als "Ewiggestrige", als kinder- und innovationsfeindlich geschmäht.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 24.11.2005 um 10.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1684

Ich stelle also fest:
Sowohl meine naive Frage, als auch die schillernde Antwort, beide haben satirischen Unterhaltungswert!

Wäre die Sache nicht so ernst, könnte man sogar darüber lachen.

Mich wundert nur, daß noch kaum Journalisten diese Zustände zum Inhalt kritischer Berichterstattung gemacht haben.
 
 

Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 24.11.2005 um 15.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1687

Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als die neue Bildungs- und Forschungsministerin Schavan vor ein paar Tagen davon sprach, einen "Rat für Forschung" einrichten zu wollen.

Gleiches Muster wie bei der RS"R" - scheint wohl bei Ministern, die ja auch beliebig austauschbar sind und von der Materie so gut wie nichts verstehen, üblich zu sein.

Wenn man nicht mehr weiter weiß,
gründet man einen Arbeitskreis.


 
 

Kommentar von Galina Leljanowa, verfaßt am 26.11.2005 um 09.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1718

Geschätzter Herr Professor Ickler,

seien Sie bitte besorgt, dass an einer respektvollen Form Ihrer Kommentare festgehalten wird.

Der Inhalt im zweiten Absatz ist inakzeptabel! Äusserungen wie "alte Leute haben den Vorteil, dass sie bald sterben bzw. dass die alten Knacker bald abkratzen" entsprechen nicht dem gewohnten Niveau Ihrer Sprachforschung. Halten Sie an einer gewissen Hemmschwelle fest und ersparen Sie mir als Leserin eine solche unaufgeforderte Zumutung. Ausserdem hat einer Ihrer Autoren vergessen, dass zu einer "Omi" immer auch noch ein "Opa" gehört.

Meine beiden Grossmütter hatten das Glück, alt zu werden. Beide durften bei geistig guter Gesundheit ohne Krankheiten und Altersbeschwerden weit über achtzig Jahre alt werden. Meine beiden Grossväter (alte Knacker, die bald abkratzen, wie der Autor sich auszudrücken pflegt) durfte ich leider nicht kennen lernen, da der eine (deutscher Nationalität) kurz vor dem Krieg sein Leben verloren hat und der andere (russischer Nationalität) während des Krieges den Transport von Russland nach Polen nicht überlebt hat.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Galina Leljanowa bzw. GL / GL aus der Schweiz
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.11.2005 um 16.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1723

Zur Erläuterung: Professor Ickler gibt hier nicht seine eigene Denkweise wider, sondern die Denkweise mancher Erfinder und Betreiber der Rechtschreibreform. Würde es nun etwas bringen, dies mit gewählteren Worten oder verhüllend auszudrücken? Etwa so: "Das Problem der gespaltenen Orthographie wird sich mittel- bis langfristig entschärfen und schließlich erübrigen, weil die Kinder neue Rechtschreibung lernen. Dadurch wird sich das Verhältnis von Neuschreibern und Altschreibern mit der Zeit zugunsten der Rechtschreibreform entwickeln. Irgendwann wird niemand mehr alte Rechtschreibung in der Schule gelernt haben."

Dieser Gedankengang ist zwar nicht richtig, weil die Neuschreibung - sprachgeschichtlich ist sie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln - selber immer wieder korrigiert werden muß, und zwar ganz überwiegend in Richtung der sogenannten alten, in Wirklichkeit viel moderneren Rechtschreibung. Aber darauf kommt es hier nicht an. Daß das Abwarten der biologischen Schützenhilfe für die Reform vielen gar zu lang dauert, sieht man deutlich an etlichen Bibliotheken, die ihre Bestände in sogenannter alter Rechtschreibung flugs containerweise entsorgt haben. Ab in den Müll oder ins Altenheim für Bücher, ins Antiquariat. Aus der Sicht dieser eifrigen Reformfreunde wäre es natürlich wünschenswert, wenn es mit den lebendigen Vertretern der alten Rechtschreibung genauso geschehen könnte, daß sie möglichst bald aus dem Verkehr gezogen werden. Das muß man verstehen können. So ticken leidenschaftliche Reformer nun einmal, daß ihnen jedes Hemmnis und jede Verzögerung auf dem Weg der Reform ein Ärgernis ist.

Ein sarkastischer Stil ist sicherlich am geeignetsten, wenn man diese Gedanken wiedergibt, die tatsächlich geäußert worden sind. Jedenfalls ist hier Professor Ickler der falsche Adressat für Klagen über mangelnde Achtung vor der älteren Generation. Übrigens ist die Rechtschreibreform auch kein Ausweis besonderer Achtung vor den Kindern. Diese dienen den Reformern nur als nützliche Idioten (sie durchschauen es nicht und können sich auch nicht wehren), um die Reform mit Hilfe der Staatsmacht durchzusetzen. Auch dies ist vielfach belegt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.11.2005 um 16.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1724

Sehr verehrte Frau Leljanowa,
wie Herr Wrase bereits festgestellt hat, ging es mir darum, durch die Wortwahl meiner Paraphrase den geringschätzigen Geist gewisser Reformer zu kennzeichnen, die auf einen "biologische Lösung", also das Ableben derjenigen älteren Menschen setzen, die sich bisher noch gegen den verordneten Mangel an Respekt wehren. Ähnliche Geringschätzung ist auch in Zeitungsartikeln wiederholt zum Ausdruck gekommen, wofür ich in meinen Büchern mehrere Beispiele zitiere. Damit dürfte dieses Mißverständnis wohl ausgeräumt sin.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.11.2005 um 16.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1725

Und noch ein Nachtrag: Das Wort "sozialverträglich" ist eine Anspielung auf das "Unwort des Jahres 1998", nämlich "sozialverträgliches Frühableben". Das kann man aber wirklich nur wissen, wenn man die bundesdeutsche Diskussion verfolgt hat.
 
 

Kommentar von doelbi, verfaßt am 30.11.2005 um 15.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1800

Was mich bei der Disskusion um "du" und "Du" doch sehr stark verwundert ist, daß man durch eine Großschreibung respektvoll erscheinen soll. Dieser Eindruck ist meiner Meinung nach anerzogen. Vor den Menschen, denen ich schreibe, habe ich generell Respekt, auch wenn ich "du" schreibe (die einzige Übernahme aus der Reform übrigens). Hat jemand meinen Respekt verloren, dann merkt er das sehr schnell an dem was ich ihm schreibe und auf welche Art und Weise dies geschieht und nicht an der Kleinschreibung. Daß "Sie" großgeschrieben wird sehe ich für sinnvoll an, weil es zum einen eine gewisse Distanz ausdrückt, aber noch viel wichtiger eine Verwechslung mit dem Personalpronomen 3. Person Plural unmöglich macht (sofern es nicht am Satzanfang steht). Jetzt könnte man erwidern, daß man mit "Du" einer Verwechslung mit dem unpersönlichen "du" = "man" aus dem Weg geht. Da sehe ich es aber vielmehr so, daß es oft recht eindeutig ist, wenn jemand persönlich angesprochen wird. Außerdem ist in einer unpersönlichen Aussage ein "du" doch auch irgendwie miteingeschlossen, oder nicht?
Was mich bei der Disskusion aber wirklich richtig ärgert ist, daß man Umgangsformen in PRIVATbriefen regeln und mir vorschreiben will auf welche Weise ich nun Respekt ausdrücke oder nicht. Kann man diese Regel nicht einfach ganz streichen? Es muß doch nicht wirklich alles geregelt sein!
Herzliche Grüße K.D.
 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 30.11.2005 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1801

Das eigenartigste am "du" ist, daß die Reformschreibung hier aktiv eine Ausnahme schafft. Klassisch schreibt man einfach die persönliche Anrede groß. Reformiert schreibt man die persönliche Anrede groß - außer man duzt die Person.

Wollte die Reform nicht Ausnahmen abschaffen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2005 um 17.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#1802

Ich bin eigentlich derselben Meinung. Natürlich wäre auch die Kleinschreibung des "du" in Briefen denkbar, und wenn es so Sitte wäre, hätte sich nie jemand etwas dabei gedacht. Aber da es nun mal anders ist, stört vor allem der Eingriff des Staates in solche Dinge. Aber hinzu kommt eben noch die unverschämte Begründung, die sich die Neuregler dazu haben einfallen lassen.

Im Rat für deutsche Rechtschreibung herrscht die Sprachregelung, die Reformschreibweise als "bisher übliche Rechtschreibung" zu bezeichnen, wodurch dann jeder, der schlicht beim Hergebrachten bleiben will, als revolutionärer Neuerer dasteht, der auf jeden Fall die Begründungspflicht für seine abnormen Vorschläge hat ... Daß die Geschäftsführerin alle Texte in Reformschreibung abfaßt, versteht sich von selbst. Damit ist ds Präjudiz verbunden, daß der Rat von vornherein auf der Reformseite steht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.03.2011 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#18253

Wir haben schon bei mehreren Gelegenheiten das Duzen und Siezen besprochen. In der Dudengrammatik (2005, S. 275) wird das "Sie" als höfliche Anrede definiert. Meiner Ansicht nach ist das eine Verwechslung. Höflichkeit ist eine Haltung, die den konkreten Sprechakt bestimmt. Förmlichkeit dagegen beruht auf einer definierten gesellschaftlichen Beziehung, die vom einzelnen Sprechakt unabhängig ist. "Sie Esel!" ist daher nicht höflicher als "Du Engel!".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.11.2011 um 09.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#19596

Im neuesten Duden-"Newsletter" (ich kann dieses Wort nicht ohne Widerwillen benutzen) wird noch einmal daran erinnert, daß der Duden die Großschreibung der Briefanrede empfiehlt. Ebenso ja im Brockhaus-Wahrig. Es ist bemerkenswert, wie hier ein Prunkstück der Reform zu Grabe getragen wird. Man hat uns jahrelang belehrt, warum die Briefanrede klein geschrieben werden müsse (Vertraulichkeit, keine "Ehrerbietung"), und nun soll das alles nicht wahr gewesen sein.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.11.2011 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#19597

Mit beinahe jeder der vielen tausend Dudenempfehlungen ist ein Ärgernis verbunden. Oft war die empfohlene Variante vor der Reform einfach die übliche Schreibung – dann besteht das Ärgernis darin, daß die ungebräuchliche oder sonstwie ungeeignete Neuschreibung überhaupt mit dabeisteht. Wieso werden zwei Varianten verzeichnet, wenn eine davon nichts taugt? Oder, ebenfalls sehr häufig, es wird die ungebräuchlichere oder sonstwie weniger geeignete Schreibung empfohlen. Über die Fehlinformation des einzelnen Wörterbuchnutzers hinaus bedeutet das, daß schlechte Schreibungen sich aufgrund der Dudenempfehlungen ausbreiten. Wenn es schon Varianten gibt, sollte es sich doch um ein Angebot an die Schreibgemeinschaft handeln, je nach Geschmack, Kontext, Verbreitung usw. eine von beiden zu wählen – diese Wahlmöglichkeit wird durch eine allgemeine Empfehlung zunichte gemacht, wenn sie denn stupide befolgt wird. Oder die beiden Varianten können etwas Verschiedenes ausdrücken, dann ist die Empfehlung nur einer Variante geradezu sprachwidrig.

Der Fall Du vs. du in der Brief-Anrede ist ein Musterbeispiel dafür, daß es dem Schreiber überlassen bleiben sollte, was er aus seinem persönlichen Stil heraus oder entsprechend der Situation bevorzugt. Das könnte der Duden ohne weiteres so darstellen, zumindest in Kommentaren wie dem Duden-Newsletter. Stattdessen schert die Redaktion mit ihrer Empfehlung alle Schreiber und alle Situationen gewaltsam über einen Kamm. Damit befördert der Duden die allgemeine Verwirrung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2012 um 08.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#21698

Die Hoffnung der Reformer auf eine biologische Lösung der Rechtschreibfrage geht selbstverständlich in Erfüllung. Jüngere Schriftsteller, die bereits in der Schule reformiert schreiben mußten, haben kein Gefühl mehr für die Unzulänglichkeit von Schreibweisen wie heute Abend, drei Mal oder die weitestgehende Getrenntschreibung von Verbzuätzen. Ich stelle dies z. B. in Stefan Thomes Roman "Fliehkräfte" (Suhrkamp) fest. Dazu trägt natürlich das Schwinden des Qualitätsbewußtseins beim Verlag bei. (Eine Handvoll Lektoren entscheidet.)
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.10.2012 um 13.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#21726

Die Franzosen hatten 1990 ja auch eine"Rechtschreibreform". Wikipedia teilt unter Französische Rechtschreibreform von 1990 mit:

... ist ein zwischen 1989 und 1990 erarbeiteter Katalog, der gewisse Änderungen der französischen Rechtschreibung empfiehlt. Die Änderungen sind jedoch bisher in keiner Weise verpflichtend und werden in der täglichen Praxis (Presse, Medien, Belletristik, Schulen, Universitäten, usw.) kaum angewendet.

Was für ein himmelweiter Unterschied! Eine biologische Lösung, ein Vernichtungskampf Neu gegen Alt, das ist alles komplett unnötig, wenn man es nicht so deutsch anpackt.
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 17.10.2012 um 15.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#21728

Zum Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2012 um 08.44, #21698:

Es dürfte generell sehr schwer sein, heute noch einen Verlag zu finden, der Romane bisher unbekannter Autoren in klassischer Rechtschreibung herausbringt.

Hiermit rege ich an, seitens der Reformgegner einen Verlag zu gründen, der bewußt nur Bücher in klassischer Rechtschreibung herausbringt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.11.2015 um 09.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=293#30698

Wie die Zeitung weiter schreibt, habe Kauder nach der Rede Mattfeldt zugerufen: „Du solltest Dich was schämen.“ (...) Auch der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Michael Grosse-Brömer, habe laut geschimpft, sagte Mattfeldt gegenüber der "Bild"-Zeitung. „Das war unmöglich. Weißt Du eigentlich, in welcher Fraktion Du bist?“, habe er gerufen. (Focus 28.11.15)

Diese Großschreibung in der Wiedergabe wörtlicher Rede findet man nun täglich. Eine der paradoxen Folgen einer Reform, die alles klein schreiben wollte.
 
 

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