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02.11.2008
 

Herrscht nunmehr tatsächlich Schreibfriede?
Eine Rezension

Der Schriftleiter der Wiener Sprachblätter, Gottfried Fischer, nimmt in Ausgabe 3/2008 das Büchlein „Schreibfrieden. Erste Hilfe zur neuen Rechtschreibung“ von Hans Haider kritisch unter die Lupe.

„Die augenfälligsten Veränderungen:

… drei Konsonanten hintereinander (Schifffahrt statt Schiffahrt; schon bisher kamen die drei gleichen Konsonanten, wenn ein vierter folgte, wie bei der Schifffracht und Ablassschraube), …“

Welch ein Unsinn! Nun, wir haben uns ja daran gewöhnt, daß irgendwelche Befürwortlinge in Zeitungen allerlei Falsches schreiben, weil sie bei der Reform der Rechtschreibung mitmachen wollen, aber keine Ahnung von der Rechtschreibung haben, aber hier handelt es sich um ein Buch Hans Haiders (s. u.). Hans Haider ist, man höre und staune, Mitglied im „Rat für deutsche Rechtschreibung“, der Einrichtung, die die deutsche Rechtschreibung festlegt, und das Buch „entstand mit großzügiger Unterstützung durch: Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur“ (S. 4), steht also im öffentlichen Zusammenhang. Zudem steht dieser Unsinn auf der ersten Seite nach der Einleitung (S. 15).

Wie jeder Kenner der Rechtschreibung, und dazu können die Leser der Wiener Sprachblätter gezählt werden, weiß, erscheint Doppel-s in der klassischen Rechtschreibung am Ende eines Wortes als ß, ganz gleich, was ihm folgt; eine Schreibung Ablass statt Ablaß erscheint also nie, auch nicht in dem mißglückten Beispiel, welches in Wirklichkeit klassisch Ablaßschraube geschrieben wird.

Wer jetzt sagt, es sei zum Verzweifeln, daß solche Menschen über die Schreibweise von 100 Millionen Menschen entscheiden dürfen – wer könnte ihm widersprechen?

Ist diese Stelle ein Einzelfall? Mitnichten. In der Liste der trennbaren Zeitwörter (trennbaren Verben) finden sich höchst verblüffende Beispiele. Trennbare Zeitwörter sind Wörter wie anrufen, die in der finiten Form getrennt werden, z. B.: Hilde ruft mich einmal in der Woche an und nicht *Hilde anruft mich einmal in der Woche.) Auf den Seiten 34 und 35 aber findet sich eine Liste mit folgenden denkwürdigen Beispielen: „durch-: durchstoßen – die Spitze stößt durch die Haut;“. Hier handelt es sich jedoch nicht um das trennbare Verb durchstoßen (er stößt das Eis durch), sondern einfach um das Zeitwort stoßen (+ Verhältniswort durch). Seite 35: „nebenher-: nebenhergehen – er ging geduldig neben ihr her;“. Er geht neben ihr her kommt natürlich nicht vom Zeitwort nebenhergehen, sondern von hergehen + neben, sonst müßte es heißen: Er ging ihr nebenher.

Auf S. 38 lesen wir: „bahnbrechend, meterhoch. Bei vielen untrennbaren Zusammensetzungen finden sich vor einem Adjektiv oder einem adjektivisch gebrauchten zweiten Bestandteil entweder Substantive, andere Adjektive, Verben, Adverbien oder Wörter anderer Kategorien.“ Unter einem adjektivisch gebrauchten zweiten Bestandteil versteht der Verfasser offensichtlich Mittelwörter (Partizipien) wie brechend in bahnbrechend. Auf S. 39 finden wir dann u. a. folgende Beispiele: einfach, letztmalig, blauäugig, großspurig. Aber *spurig, *äugig, *malig und *fach sind weder Adjektive noch adjektivisch gebrauchte Wörter, sondern Morpheme, die selbständig überhaupt nicht vorkommen.

Mit größter Erleichterung nehmen wir auf S. 56 zur Kenntnis, daß durch die Rechtschreibreform ein uralter Streitfall entschärft wurde: Man darf beides schreiben: Sie spricht Englisch (auf die Frage: Was spricht sie? Englisch als Hauptwort aufzufassen) und Sie spricht englisch (auf die Frage: Wie spricht sie? englisch als Umstandswort aufzufassen). „Endlich!“ rufen wir erleichtert aus, schlagen jedoch vorsichtshalber noch in einem alten Duden nach, z. B. von 1986, und finden dort genau die gleiche Erklärung (S. 204). Auch diese Mitteilung ist also falsch.

„Lautgerechter ist die neue Schreibung Gämse allemal als Gemse.“ (S. 93). Wieder Unfug. Das Wort Gemse spricht man mit kurzem, offenen e aus, und dieses wird im Deutschen gleichermaßen mit e und ä wiedergegeben, es gibt keinen Unterschied in der Aussprache von Sätze und setze. Auf derselben Seite: „Der Thunfisch wurde zum Tunfisch, so wie sich vor hundert Jahren das Thor zum Tor reduziert hat.“ Diese Gleichsetzung stimmt nur bei oberflächlicher Betrachtung, denn der grundlegende Unterschied besteht darin, daß Tor ein germanisches Wort ist und das Thun- in Thunfisch letztlich aus dem Altgriechischen stammt (thýnnos); um anzuzeigen, daß Wörter aus dieser Sprache kommen, schreibt man sie mit th, wenn sie im Agr. mit Theta (θ) geschrieben wurden.

Daß der Rechtschreibrat Haider weder von Sprache noch von Rechtschreibung viel versteht, haben wir nun begriffen. Durchaus originell aber ist seine Vorgehensweise. Während andere Neuschreibanhänger sich immer in wüsten Beschimpfungen der klassischen Rechtschreibung und ihrer Befürworter ergehen und die veränderte über den grünen Klee loben, verfolgt Haider eine andere Kriegskunst: er rügt die Reform weidlich, stellt sie aber als unabdingbar hin:

„Von ihren Schreibtischen aus haben diese Reformer ganzen Völkerschaften neue mores diktiert im Umgang jedes Einzelnen mit Sprache und Schrift. Unzählige Micky-Maus-Probleme werden von Parlamenten gesetzlich gelöst – die Neue Rechtschreibung aber wurde so demokratiefern verordnet wie eine neue Parkordnung durch die Stadtpolizei.“ (S. 95) Das ist fein beobachtet, genauer könnten wir es auch nicht ausdrücken (abgesehen davon, daß Mores sowohl in der klassischen als auch der neuen Rechtschreibung groß-, und die neue Rechtschreibung in der klassischen und der neuen Rechtschreibung kleingeschrieben wird; wer das nicht glaubt, kann in folgender Veröffentlichung des Institutes für deutsche Sprache nachschlagen, die auf seiner Heimseite einzusehen ist: „Regeln und Wörterverzeichnis. Entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung. Überarbeitete Fassung des amtlichen Regelwerkes 2004“, also entsprechend dem Rat, dem Haider selbst angehört).

Möglicherweise ohne es zu wollen, spricht er uns auf S. 94 großes Lob aus: „Mitgliederreiche Sprachpflegevereine versuchten den Protest bis zum Flächenbrand auszureizen – nicht ganz vergebens, denn in der Folge brach in der Meinungsforschung die Zustimmung zur Reform ein.“ In unaufgeregte Sprache übersetzt: Wir machten auf das, was wir als nicht vernünftig erkannten, aufmerksam und konnten die Allgemeinheit dazu bringen, sich zu wehren. Ohne diese Gegenwehr gäbe es heute noch den Spinnefeind von 1996 (heute wieder: Sie ist ihrer Nachbarin spinnefeind).

Es verwundert, daß Haider, der doch österreichischer Kulturjournalist ist, die Formen „Januar/Februar“ (S. 78) verwendet statt Jänner/Feber. Das Buch ist in Wien herausgekommen, wurde vom österreichischen Bildungsministerium gefördert. Wenn es günstig scheint, vergißt man offensichtlich schnell sein österreichisches Deutsch.

Es gelingt dem Verfasser auch, uns mit seiner Erklärung, warum die Reform zustande gekommen sei, zu verblüffen: „Die deutsche Politik musste die kommunistischen Schul- und Amtsschriften ersetzen und die Schulbibliotheken von politisch geächteter Literatur säubern.“ (S. 85; vgl. auch S. 114). Die Rechtschreibreform als antikommunistischer Vernichtungsschlag? Will man damit die Rechten ködern?

Der Reformer verliert viel von unserer Zuneigung (sofern vorhanden), wenn wir erfahren, daß er das ß abschaffen will: „Das ß ist ein Erbe aus dem Bleisatz, es hat als ‘Ligatur’ das gewöhnliche Doppel-s zu einem Buchstaben verschmolzen.“ Wieder irrt Haider. Das ß ist nicht als Ligatur (Verbundbuchstabe) aus zwei gewöhnlichen s entstanden (die Ligatur aus zwei s sieht so aus: ſſ), sondern aus einer Verschmelzung von s und z: aus ſz wurde ß [Anm. d. Red.: "z" und "ß" hierbei in Fraktur]. Aus diesem Grund heißt dieser Buchstabe Eszett. In Österreich heißt er scharfes s, weil dieser Buchstabe nicht nur die Länge des vorhergehenden Selbstlautes anzeigt (er bewundert die Maße, nicht die Masse seiner Geliebten), sondern auch angibt, daß das s stimmlos und nicht stimmhaft ist, vgl. Muße gegenüber Muse. Diese Hilfe ist besonders für Ausländer, die Deutsch lernen, äußerst wichtig. Seine Voraussage, daß das ß in Österreich früher als in Deutschland abgeschafft werden werde (daselbst), weil Österreich zwischen sieben Ländern liegt, die kein ß haben, läßt nicht auf eine wirklichkeitsnahe Sprachbeobachtung schließen. Das wäre gerade so, wie wenn die Tschechen auf ihr ř verzichteten, weil sie von lauter Ländern umgeben sind, die kein ř kennen. In Wirklichkeit sind die Tschechen äußerst stolz auf ihr ř, und ich sage voraus, daß sie es niemals ihren Nachbarn zuliebe abschaffen werden. Die Verwendung von Buchstaben folgt anderen Notwendigkeiten, als Nachbarn gefällig zu sein. Allerdings lernen wir daraus, daß die Reformer diese Reform nur als Einleitung verstehen, der ihre wahren Anliegen, die großen Brocken noch folgen sollen: Abschaffung der Umlaute, Abschaffung des ß, Abschaffung der Großschreibung …

Falls jemand noch zweifelt, ob er als Reformgegner auf der richtigen Seite steht, dann braucht er nur die Seiten 100 – 104 zu lesen. Alles, was Rang und Namen hat, alle Schriftsteller von Bedeutung, Männer und Frauen, die in ihrem Leben vielfach ausgezeichnet wurden, Universitätsprofessoren, Nobelpreisträger, alle, die etwas von Sprache verstehen, sind Reformgegner. Wenn man diese Aufzählungen liest, gibt es keinen Zweifel, daß man als Kulturmensch Reformgegner sein muß:

Hans Magnus Enzensberger, Ilse Aichinger, Günter Grass, Martin Walser, Siegfried Lenz, Walter Kempowski, Elfriede Jelinek, Alois Brandstetter, H. C. Artmann, Gertrud Fussenegger, Friedericke Mayröcker, Peter Hacks, Stefan Heym, Hermann Kant, Herbert Heckmann als Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, Alexander Giese als Präsident des österreichischen PEN-Clubs usw. usf. Wie können es die Reformer wagen, sich über diese hochbegabten und verdienstvollen Menschen zu stellen und zu sagen: „Wir wissen es besser als all diese Leute!“ – ja, die Reformer Sitta und Gallmann sprachen sogar vom „öffentlichen Gegacker“ der Schriftsteller. Da wendet sich der Gebildete mit Grausen.

Hier ein Zitat von vielen, und zwar von Hans Magnus Enzensberger, der nicht nur selbst ein hervorragender Schriftsteller, sondern auch der Herausgeber des „Kosmos“ ist, der „physischen Weltbeschreibung“ Alexander von Humboldts, also ein Mann, dem man Sprachkenntnis in höchstem Ausmaß zuschreiben muß. Die Reform stamme von selbsternannten Experten, „denen selbst die Autoren von Trivialromanen an Sprachgefühl und historischer Delikatesse weit überlegen sind.“ (S. 102) Das spricht wohl für sich.

Der letzte Teil des Buches (S. 119-176) besteht aus einem Wörterverzeichnis, das dem amtlichen Regelwerk 2006 unter „der Verantwortung des Rats für deutsche Rechtschreibung“ (S. 117) beigegeben wurde.

Seltsam, daß für den Umschlag des Buches der unruhigste Farbkontrast gewählt wurde, den es gibt: Rot mit Grün (vgl. Abb. auf dem vorderen Umschlag dieses Heftes). Um Frieden auszudrücken, ist diese Verbindung denkbar ungeeignet, und der Friede, der jetzt herrscht, ist auch nicht freiwillig geschlossen, sondern erzwungen worden und steht daher, wie alles Erzwungene, auf tönernen Füßen, und wie alles, was auf eine tragfähige Grundlage verzichtet, wird dieses Machwerk zusammenbrechen. Daran ändert dieses zwiespältige Buch nichts.

(Gottfried Fischer)

Haider, Hans: Schreibfrieden. Erste Hilfe zur neuen Rechtschreibung. Wien: Steinbauer 2006.

(Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung, den Text an dieser Stelle wiedergeben zu dürfen.)



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Kommentare zu »Herrscht nunmehr tatsächlich Schreibfriede?«
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 17.12.2008 um 01.26 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7449

Herr Schuchardt,

Vvelen Dankfür den Hinweis. So sehe ich, was ich alles übersehe, wenn ich jeweils nicht wenigstens zwei Wochen in Deutschland bin.


Kommentar von M. Schuchardt, verfaßt am 16.12.2008 um 16.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7448

Zu dem von Herrn Schatte erwähnten Buch habe ich eine frühere Version (ein Kommentar weist darauf hin, daß es nicht in Neuschrieb erschien!) von 2005 gefunden und

"Heraus mit der Sprache

Ein bisschen Deutsch für Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Aus- und Inländer
Cover: Heraus mit der Sprache

Carl Hanser Verlag, München 2005
ISBN-10 3446206183
ISBN-13 9783446206182
Gebunden, 192 Seiten, 17,90 EUR "

Siehe hier: http://www.perlentaucher.de/buch/21067.html

Auch mit Rezensionen von FR und FAZ.


Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 15.12.2008 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7446

Im April 2008 erschien bei dtv das Büchlein "Heraus mit der Sprache. Ein bißchen Deutsch für Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Aus- und Inländer" von Andreas Thalmayr, in dem nachzulesen ist, warum der nun herbeigeredete Rechtschreibfriede keineswegs herrscht, sondern eher eine Ruhe vor dem endgültigen Sturm zu sein scheint, der das Machwerk RSR hinwegpustet.

Thalmayr ist freilich das Pseudonym eines der aufgeführten bedeutenden deutschen Schriftsteller.

Übrigens muß man schon ein wenig die linguistische Terminologie kennen, um das Büchlein lesen zu können. Wenn doch alle Deformer in deutscher Grammatik so beschlagen gewesen wären wie dieser hochgeachtete und hochverdiente Literat!


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 19.11.2008 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7414

Es ist wirklich erbärmlich, welche Leute über unsere Sprache entscheiden dürfen. Man sollte auch nicht von einer "Rechtschreibreform" reden, sondern von einem Rechtschreibputsch (Putsch: laut Pfeifers etymologischem Wörterbuch "überraschende Aktion einer meist reaktionären Minderheit").
Etwas finde ich an Fischers sehr schönem Artikel aber doch zu mäkeln. Wenn wir von den Lesern der Wiener Sprachblätter hohes Niveau erwarten, dann bitte genau: "-spurig" ist (ebenso wie -äugig und -mäßig) kein Morphem, sondern eine Morphemgruppe. Zur Erinnerung: Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache. "Großspurig" besteht aus den Morphemen {groß}, {Spur} und {-ig}, wobei das Grammatem {-ig} das Wort zu einem Adjektiv macht.
Nebenbei: Welche tiefschürfende Erkenntnis will Haider uns mit der Aussage, vor dem zweiten Bestandteil fänden sich "entweder Substantive, andere Adjektive, Verben, Adverbien oder Wörter anderer Kategorien" vermitteln? Rosen blühen rot, weiß oder in einer anderen Farbe.
Letzte Bemerkung: Natürlich kann man "Neue Rechtschreibung" als Eigennamen sehen wie "Neue Sachlichkeit" oder "Neue Deutsche Welle" und dann entsprechend groß schreiben. Nur entspricht das weder inhaltlich noch formal den Absichten der Putschisten, die doch diese Art der Großschreibung zurückdrängen wollten. In jedem Fall ein weiterer Beleg, daß die Neuschreiber ihr eigenes Machwerk nicht verstanden haben.


Kommentar von Thomas Paulwitz, verfaßt am 17.11.2008 um 11.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7413

Der „Herausgeber“ der Wiener Sprachblätter ist der Verein „Muttersprache“, Wien. [Vielen Dank für den Hinweis. Red.]


Kommentar von Red., verfaßt am 07.11.2008 um 03.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7410

Das Thema lautet: Hans Haider und der Sprachfrieden.


Kommentar von Michael Schuchardt, verfaßt am 06.11.2008 um 21.24 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7409

Lieber MG,

Sie haben mich richtig überzeugt, daß das mit dem ä ein Hörfähler ist.

Eigentlich mußte ich bei der Geschichte an ein altes Fernsehstück mit Dieter Borsche und Willy Reichert denken. Mir fiel nur der Name Reicherts nicht gleich ein. Da tritt doch Dieter Borsche als Gesandter der Kirchenleitung bei Willy Reichert als schlitzohriger Pfarrer auf. Der bietet ihm etwas zu trinken an, das Borsche selbstverständlich ablehnt. Er trinke nicht. Darauf Reichert: "Dasch iss aber ä Fähler" und dann gehts mit dem Rauchen weiter und der Willy Reichert kriegt sich gar nicht mehr ein und wiederholt ständig daß das aber ein FÄHLER sei. Herrlich!

Aber da wo ich aufgewachsen bin kommt das ä häufig auch in der Dialektform vor. Beispiele: Wissen Sie was Hää ist? Heu. Und was ist ein Ääg bzw. mehrere Äjer? Eier. Und was war gestern bzw. näächt? Und ein Kreppel ist da ein Kräbbel.


Kommentar von MG, verfaßt am 05.11.2008 um 21.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7407

Wenn dr Gärmanischt behaubded, daß d'Schwòòba älle "e" wia "ä" ausschbrächa dädat, nòò isch er schlicht a _Seegoggl_. Mit e wia Emmiel.

Was heerat Sia au blos, Herr Schuchardt?

Dia "Schòòfseggl" sengat doch richdig "well mir (mir!) hald oifach – die allerbeschte sen." "Ällerbeschde" wär an sich no a bißle besser gwä – abbr des Wort "beschde" spricht an ächdr Schwòòb nadierlich en jedem Fall mit amma "e" aus.

Iebrigens k~a mr mit zemmlichr Sicherheit an manche e heera, ob a Schòòb efangelisch oddr kadolisch isch. Secht r "Lährer" oddr "Ähre" oddr "Sääle" oddr "sähr", nòò ischer heckschwahrscheinlich efangelisch. Secht r abbr "Lehrer", "Ehre", "Seele" on "sehr", nòò ischer mit guadr Wahrscheinlichkeit kadolisch.


Kommentar von Schwäbisch for runaways, verfaßt am 05.11.2008 um 20.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7406

@Schwabe

Na ja, aber mal Hand aufs Herz: wenn ich mir die Musik von den Schoofseggl so anhöre und der Refrain lautet: "... weil wir die allerbeschte sind", dann klingt das e aber sehr stark nach ä, gelle?

Und was ist mit Ausdrücken wie Häfelesgucker und Lällabebbl?

Und wer's nicht glaubt, der möge mal reinhören:
http://www.schoofseggl.de/html/index.htm

M. Schuchardt


Kommentar von Schwabe, verfaßt am 04.11.2008 um 20.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7405

Weder Lothar Späth noch sonst ein Schwabe hat je so gesprochen. Ihr Kommentar, Germanist, ist – mit Verlaub – der reine Unfug.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.11.2008 um 17.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7404

Ich hielt Lothar Späth, den früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württhemberg, immer für ein Musterbeispiel für die schwäbisch-hochdeutsche Aussprache aller "e" als "ä", aber ich wußte nicht, daß er in Wirklichkeit ungarisches Deutsch spricht. Mea culpa, denn ich habe mich nicht mit Ungarisch befaßt, weil es keine indoeuropäische Sprache ist.


Kommentar von R. M., verfaßt am 04.11.2008 um 16.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7403

Die Aussprache würde sich nur unterscheiden, wenn ein Sprecher hyperkorrekt (oder dialektgefärbt) vorläse, was ausgebildeten Nachrichtensprechern nicht unterlaufen sollte. Ein solches Fehlverhalten wäre ebenso eine Auswirkung der von der Schreibung ausgehenden Suggestion wie die Einbildung, einen Unterschied zu hören, wenn dieser vom Sprecher nicht gemacht wird.

Herr Fischer bezieht sich aber ohnehin nicht auf irgendeine Sprechpraxis, sondern auf die vor über hundert Jahren kodifizierte deutsche Hochlautung, die Herrn Haider offenbar unbekannt ist.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 04.11.2008 um 15.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7402

Herr Markner, ich bin nicht in der Lage, eine großangelegte Untersuchung durch- oder auch nur anzuführen, das ist richtig. Dennoch würde ich Sie auffordern, einmal auf die Aussprache von kurzem ä und kurzem, offenen e in der Tagesschau oder in den heute-Nachrichten zu achten. Ich meine, auch dort einen Unterschied zu hören ("die Sitzung wurde für heute abend angesetzt", "die Diätensätze wurden erhöht").

Ich will diesen Randaspekt nun aber auch nicht zum Anlaß für eine längliche Diskussion nehmen. Nur noch soviel: den Reformern hat die Gleichlaut-Theorie gefallen, konnten sie doch auf diese Weise noch ein paar "e"s durch "ä"s ersetzen und behaupten, die Aussprache ändere sich nicht.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.11.2008 um 15.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7401

Die bayerischen Grundschulkinder lernen jetzt nicht "Eszett" sondern "scharfes s". Den Namen "Eszett" kennen sie nicht.


Kommentar von R. M., verfaßt am 04.11.2008 um 12.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7400

Herr Fischer, Sprachwissenschaftler an der Universität Wien, hat den Sachverhalt richtig dargestellt. Es hilft nichts, dem bloße Meinungen entgegenzustellen. Fischer bezieht sich ebenso wie das Regelwerk und Herr Haider auf die Hochlautung. Daß es regionale Abweichungen von dieser gibt, versteht sich von selbst.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 04.11.2008 um 10.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7399

Kann es am Theater nicht vorkommen, daß Kulissenschieber einmal Wände wenden müssen? Wo in Deutschland hört man da keinen Unterschied zu "Wende wänden"?

Sicher ist die Aussprache ähnlich. Bei der Einführung der Lautschrift wurde dieser doch vorhandene Unterschied der Einfachheit halber eingeebnet. Womit wir wieder beim Thema Prä- versus Deskription wären.


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 03.11.2008 um 21.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7398

"Doch, den [Unterschied in der Aussprache von "Sätze" und "setze"] gibt es. Zumindest in Süddeutschland, wahrscheinlich aber im gesamten deutschen Sprachraum." (#7391)

Wenn ich mich recht erinnere, wanderte die "i"-Umlautung von Nordnordwesten nach Südsüdosten (engl. bridge, [n]dt. Osnabrück, [h]dt. Innsbruck) und war 1455 noch nicht in Mainz, denn sonst würden wir heute nicht Bücher drucken, sondern drücken, lehrte mich mal wer. Wo also die Umlautung später eingetreten ist, dürfen wir durchaus einen Unterschied zwischen [ä] und [e] erwarten; aber einen zu verlangen oder gar vorzuschreiben, ist doch Blödsinn. Wie *müßten* wir denn "behende" aussprechen, wenn's auf einmal "behände" geschrieben würde? Und "eng" gehört zu "Angst" (wie jeder Psychiater weiß und welches die Manisch-Reformierenden wie so vieles nicht sehen).
Würde ich ermahnt, "aufwändig" und nicht "aufwendig" zu sagen, würde ich sicher sofort als leise Andeutung meiner Ablehnung solch unsinnigen Ansuchens eine Wände machen, denn einmal spreche ich als in einem mitteldeutschen Dialektgebiet Aufgewachsener sehr vieles zwar eher nach süddeutscher Art aus, zum andern weiß ich aber, daß keiner mißverstanden wird, wenn er hier den Vokal [e] oder [ä] ausspricht. Und damit: Hab die Ehre!


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 03.11.2008 um 20.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7397

Diese Liste zeigt, daß das Betonungskriterium für die Zusammenschreibung nicht ohne weitere Erklärung hilft. Die Zusammenschreibung folgt aus dem Betonungsverlust eines der beiden Bestandteile gleichermaßen, Proklise wie Enklise.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 03.11.2008 um 18.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7396

Wenn die Schwaben hochdeutsch schwätzen, wird jedes "e" als "ä" gesprochen.

Obwohl es nicht zur Reform gehört, hier eine Liste betonungsabhängig doppeldeutiger Verben, die bei Betonung des Verbzusatzes "trennbar" und bei Betonung des Verbs "untrennbar" gebeugt werden:
'durchbrechen - durch'brechen,
'durchdringen - durch'dringen,
'durchfahren - durch'fahren,
'durchlaufen - durch'laufen,
'durchschauen - durch'schauen,
'durchsetzen - durch'setzen,
'übersetzen - über'setzen,
'überstürzen - über'stürzen,
'übertreten - über'treten,
'umlaufen - um'laufen,
'umreißen - um'reißen,
'umschreiben - um'schreiben,
'umstellen - um'stellen,
'untergraben - unter'graben,
'unterstellen - unter'stellen.


Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 03.11.2008 um 15.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7393

Sätze und setze werden im Standarddeutschen jedenfalls gleich ausgesprochen; wie es in süddeutschen Dialekten ist, weiß ich nicht. Man läßt sich leicht durch das Schriftbild irreführen – so wie jene, die einen Unterschied zwischen Rad und Rat hören wollen.

(Räder und Reeder können unterschiedlich ausgesprochen werden.)

Ich las einmal von einem Nachrichtensprecher, der ermahnt wurde, »aufwändig« und nicht »aufwendig« zu sprechen.
Ebenso sinnlos wäre die Aufforderung, heute Abend mit großem A zu sprechen.


Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 03.11.2008 um 11.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=608#7391

"[...] es gibt keinen Unterschied in der Aussprache von Sätze und setze."

Doch, den gibt es. Zumindest in Süddeutschland, wahrscheinlich aber im gesamten deutschen Sprachraum.

Ich las einmal von einem Nachrichtensprecher, der ermahnt wurde, "aufwändig" und nicht "aufwendig" zu sprechen. Diese Ermahnung wäre der Gleichlaut-Theorie gemäß auch nicht nötig gewesen.



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