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27.10.2009
Koalitionsvertrag
Eine zentrale Roadmap
Der Koalitionsvertrag ist selbstverständlich in Reformschreibung gehalten, die Kommasetzung allerdings (im Entwurf) etwas nachlässig. Man schreibt einmal "so genannte" und einmal "sogenannte"; "selbständig" nur so.
Häufige Wörter sind "unverzichtbar" (12mal) und "Herausforderung" (18mal).
Alles, was überhaupt erwähnt wird, ist wichtig oder sehr wichtig. "Der Tierschutz hat eine zentrale Bedeutung." Das kann doch nur heißen, daß der Tierschutz im Zentrum der künftigen Bundespolitik steht. Die Regierung kümmert sich ausdrücklich um Kormorane in Deutschland und Genitalverstümmelung in Afrika.
Sport und Film werden ausführlich bedacht, Musik ist nicht erwähnt.
Frauenpolitik kommt nicht vor, dafür "Jungen- und Männerpolitik". Männer und Knaben sind nun das Thema der Gleichstellungspolitik.
"Die Umsetzung des Bologna-Prozesses ist in Deutschland sehr weit vorangekommen, die wesentlichen Ziele sind in weiten Teilen erreicht." –
Wie denn das? Die Ziele waren doch wohl: weniger Studienabbrecher, größere Mobilität. Beides wurde verfehlt. Zur Zeit ist Nachbesserung das große Thema.
"Roadmap für Forschungsinfrastrukturen –
Für die großen Forschungsinfrastrukturen werden wir einen Roadmap-Prozess
starten, in dem wir unsere Prioritäten künftiger Forschungsinfrastruktur-Vorhaben
festlegen und in den europäischen Prozess für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI)
einbringen."
Das ist schwer zu verstehen. Roadmap wird übrigens laut Duden wie "Rotmepp" gesprochen. Die Koalition will aber auch, wie sie mehrmals betont, die deutsche Sprache fördern.
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Kommentare zu »Koalitionsvertrag« |
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Kommentar von Robert Roth, verfaßt am 27.10.2009 um 16.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15183
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"Roadmap wird übrigens laut Duden wie "Rotmepp" gesprochen".
Hierzu mal was Lustiges:
Im tiefen Südwesten der USA verlangte ich in einem kleinen Store Eier und sprach wohl kein deutliches ´e´, sondern mehr ein e zum ´ä´ hin. Die Verkäuferin verließ die Theke und kam nach einer Weile mit einer Axt zurück.
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 27.10.2009 um 17.46 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15185
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Vermutlich bezieht sich das "Erreichen der Ziele" nur auf die formelle "Umsetzung des Bologna-Prozesses", d. h. auf die Umstellung der Studiengänge und nicht auf die mit der Umstellung verbundenen inhaltlichen Ziele. Vielleicht wird es ja für selbstverständlich gehalten, daß sich die gewünschten Effekte schon von selber einstellen werden, wenn man nur das Geplante formal durchzieht. Das hat auch den Vorteil, daß man etwas Formales und nicht etwas Inhaltliches überprüfen muß, um den "Erfolg" der Umstellung zu beurteilen – was uns ja von der Rechtschreibreform her bekannt vorkommen dürfte. Kurz und knapp und etwas verallgemeinert ließe sich das so ausdrücken: Sobald die Umsetzung einer Maßnahme komplett erfolgt ist, ist sie ein Erfolg. (Natürlich nur, wenn über Inhaltliches weitestgehend Stillschweigen gewahrt werden kann, versteht sich.)
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2009 um 18.01 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15186
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Herr Wagner hat es wieder mal messerscharf analysiert; ich glaube auch, daß die Politiker das so sehen.
Die "Jungen- und Männerpolitik" ist in der Presse schon mehrmals erwähnt, aber noch wenig kommentiert worden. Da die neue Regierung die Förderung von Mädchen und Frauen gewiß nicht vernachlässigen will, hätte sich vielleicht folgende Formulierung empfohlen: Die Regierung will Mädchen und Jungen, Frauen und Männer besonders fördern.
Gar nicht kommentiert werden bisher die Kormorane. Es ist ja bekannt, daß 2010 der Kormoran der Vogel des Jahres sein wird. Frau Merkel muß geahnt haben, daß sie damit in große Schwierigkeiten geraten könnte, denn die Teichfischer, besonders hier in Bayern, wollen ja den Kormoran ganz und gar vernichten (auch wenn sie es so kraß nicht sagen). Die Naturschützer andererseits glauben nicht an die Schreckensmeldungen von "leergefischten" Gewässern, wie vor ein paar Tagen in der Zeitung zu lesen war. (Wovon leben eigentlich die Kormorangeschwader, wenn die Gewässer leer sind?) Deshalb nun hat die Koalition die Lösung der Kormoranfrage auf "Europa" geschoben.
Immerhin dürfte es der erste Koalitionsvertrag sein, der wörtlich auf die Kormorane eingeht und nicht nur auf die dicken Wale. Die wunderschönen Vögel haben es verdient.
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Kommentar von Stephan Lahl, verfaßt am 27.10.2009 um 21.39 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15187
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Ich habe den Vertrag bisher nicht gelesen, weil ich ihn für irrelevant halte.
Wenn verfeindete Parteien wie Union und SPD oder Union und Grüne koalieren, werden beim Koalitionsvertrag wichtige Grenzen gezogen, für die ein Nichtangriffspakt besteht.
Bei Schwarz-Gelb geht es nur darum, daß jeder Ausschuß seiner Interessengruppe vermelden kann, wie sehr man sich reinhängt.
Reine Propaganda.
Der Inhalt steht komplett unter Vorbehalt.
Was die Kormorane betrifft: Ja, die können tatsächlich Teiche in kurzer Zeit so weit leerfischen, daß für den Teichwirt ein wirtschaftlicher Totalverlust eintritt. Für die Kormorane ist das kein Problem, sie finden innerhalb des Aktionsradius genügend andere Teiche.
Der Teichwirt hat aber statt Flügeln das Strafrecht und bleibt auf dem Verlust sitzen.
Eine Lösung wäre zum einen ein regionalisierter Schutz passend zur jeweiligen Populationsgröße und zum anderen eine Entschädigungslösung für die Teichwirte analog zur Absicherung anderer Wildtierschäden. Jedenfalls stelle ich mir das naiverweise so vor.
Die Förderung von Jungen und Männern ist reiner Populismus. Die Debatte über die in der Schule zurückbleibenden Jungen ist ja aus der Presse bekannt und wird von den Teilnehmern mit großem Ernst geführt. Also muß da auch eine Absichtserklärung in den KV.
Zuständig sind aber nunmal die Länder...
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 28.10.2009 um 06.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15188
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Die Regierung will das gedeihliche Zusammenleben der Gesellschaft mit Jungen, Männern und Kormoranen fördern. Ich habe da nichts einzuwenden.
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.10.2009 um 09.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15189
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Die FDP habe im Koalitionsvertrag alle ihre "wesentlichen Kernpunkte" durchgesetzt hieß es heute früh wiederholt in den DLF-Nachrichten.
Welche ihrer Kernpunkte waren denn nicht wesentlich?
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Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 28.10.2009 um 19.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15190
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Wie wurde bloß bisher geforscht?
Offenbar planlos und ohne Infrastruktur, sonst bräuchte man den "Roadmap-Prozess" doch jetzt nicht so zu thematisieren, oder?
Betr. Bedeutung des Begriffs "Forschungsinfrastruktur-Vorhaben" sähe ich noch Erläuterungsbedarf ...
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Kommentar von Stephan Lahl, verfaßt am 28.10.2009 um 23.45 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15191
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Dieses Blahfusel wird sofort verständlich, wenn man weiß, daß es in der Forschungspolitik nur um Mittelzuteilungen und Mittelverteiler geht.
Man möchte also irgendeine Methode finden, um Bundesmittel an der Zuständigkeit der Länder vorbei in die Universitäten und Institute zu schmuggeln.
Wozu weiß man selber nicht. Bildung und Forschung sind Selbstzweck.
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Kommentar von Bernfried Janas, verfaßt am 29.10.2009 um 20.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15195
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Gelegentlich wird die Politik von der Realität kalt erwischt, so etwa beim dieser Tage gefeierten Mauerfall und dem nachfolgenden Drang nach Vereinigung. Johannes Rau, schreibt Markwort im Fokus Nr. 44, habe noch Wochen nach der Maueröffnung gesagt, "Wiedervereinigung sei die Rückkehr zum Alten". Den Alten vom ZDF hat er sicher nicht gemeint, aber das nur nebenbei, den Satz wird schon jeder richtig verstanden haben, denn ausgesprochen hat er das Wort sicher nicht mit einem Großbuchstaben. Sein sachfremdes Argument wird aber auch in Sachen Orthographie gern strapaziert. Da jedoch ist eine Mauer in den Köpfen aufgerichtet, ein "monumentum aere perennius" für das Potential der Unvernunft, das Volkes Zorn und Wille nicht ins Wanken bringen konnte. Das ist eine Realität von noch anderem Kaliber als der "Schutzwall" in Berlin.
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Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 29.10.2009 um 21.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1237#15196
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Die von Guido Westerwelle in den vergangenen Monaten und Jahren gebetsmühlenartig wiederholte Forderung nach einem »einfacheren, niedrigeren und gerechteren Steuersystem« findet sich nun, und zwar mit genau dieser Formulierung, im Koalitionsvertrag wieder. Was mag wohl ein »niedrigeres Steuersystem« sein? Gemeint sind natürlich die Steuern und nicht das System. Das dürfte den meisten aber kaum auffallen. Der falsche Bezug geht in der Gesamtkonstruktion unter. Rhetorik und Sprachökonomie scheren sich auch in diesem Fall wenig um »Logik« und »Korrektheit«.
Man könnte davon sprechen, daß man außer Steuersenkungen auch ein einfacheres und gerechteres Steuersystem anstrebt, aber dann wäre der gewollte Dreiklang dahin. Als Wahlkampfparole taugte ein solcher Satz nicht, wohl aber als nüchterne Feststellung in einem seriösen Koalitionsvertrag.
Einigermaßen akzeptabel wäre auch die Formulierung »einfachere, niedrigere und gerechtere Besteuerung«, aber Forderungen nach mehr Gerechtigkeit beziehen sich eigentlich immer irgendwie auf das System, warum sollte man also auf dessen Erwähnung verzichten? Die Formel dürfte uns noch einige Zeit erhalten bleiben.
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