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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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10.06.2007
 

Menschen verachtend
Wahrig-Sprachberatung

Was "Charlotte" im Diskussionsforum berichtet, erstaunt mich sehr, obwohl ich einiges gewohnt bin. Ist das wirklich eine Auskunft von 2007?

"menschenverachtend" ist kein Adjektiv, sondern eine Verbindung von
Substantiv ("Mensch") und adjektivisch gebrauchtem Partizip ("verachtend").


Im Wahrig wird sogar kompariert "das menschenverachtendste" usw. - wie wäre das bei einem Nichtadjektiv möglich? Und was heißt "adjektivisch gebraucht"? Ich beklage seit zwei Jahren, daß dieser rätselhafte Begriff nie erklärt worden ist, obwohl er so folgenreich ist. Meine diesbezügliche Bitte im Rechtschreibrat löst zunächst ein betretenes Schweigen von peinlicher Dauer aus und dann eine hilflose Einlassung von Herrn Schrodt, die, wenn ich mich recht erinnere, darauf hinauslief, daß "attributiv" gemeint sei, was allerdings wiederum nicht stimmen kann, wie ich früher gezeigt habe.
Aber nun: Wie kann man denn ein Nichtadjektiv, ob adjektivisch gebraucht oder nicht, mit dem Substantiv "Menschen" in eine "Verbindung" bringen? Das ist doch ein Fall für Syntaktiker, also für Gallmann oder Sitta (welcher sich mir gegenüber einmal als "Syntaktiker" bezeichnete, nicht ohne den Unterton, der mir bedeutete, ich könnte als Nichtsyntaktiker wohl nicht ganz folgen ...)

Die Wahrig-Auskunft, für deren Mitteilung wir sehr dankbar sein müssen, zeigt erschreckend, welche Verwirrung noch heute im Zentrum der Ereignisse herrscht. Und das soll in wenigen Wochen notenrelevant verbindlich werden?



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Kommentare zu »Menschen verachtend«
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 10.06.2007 um 13.10 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#8984

In der Wahrig-Sprachberatung scheinen nicht gerade "Syntaktiker" am Werke zu sein, wenn dort Adjektiv und Attribut Synonyme sind. Vielleicht könnte man in dieser Abteilung ja einen Grammatiker unterbringen, der über ein synthetisches Basiswissen sowohl zur Wortbildung als auch zur Syntax des Deutschen verfügt, das er dann weiterreichen kann.
 
 

Kommentar von Charlotte, verfaßt am 10.06.2007 um 23.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9001

Zur Frage, ob die Antwort von 2007 ist:
Ja, die Antwort ist am 8. Juni 2007 so erteilt worden.

 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.06.2007 um 23.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9002

"menschenverachtend" gehört schon immer in der Grammatikabteilung "Wortbildung" zur "Wortbildung des Adjektivs", Abteilung "Komposition", Unterabteilung "Substantiv als Erstglied", weitere Unterabteilung "Partizipialkomposita", Unterscheidung "Komposita mit Partizip I" und "Komposita mit Partizip II". Das ist eigentlich Grundwissen für sogenannte Fachleute, die sich aber wohl nur so nennen. Kein Wunder, daß die Grammatik als Kollateralschaden der Rechtschreibreform unter die Räder kommt.
 
 

Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 11.06.2007 um 13.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9011

Aus "Reformer"-Sicht sind solche Eskapaden durchaus "logisch": Wer die Schriftsprache verändern will und dabei auch Bedeutungsänderungen zumindest in Kauf nimmt (wenn nicht sogar bezweckt), der möchte sich ja den Unsinn seiner Entscheidungen nicht ständig beweisen und vorwerfen lassen; also werden auch noch die (eigentlich unstrittigen) Wortkategorien - Substantive, Adjektive, Adverben - umgedeutet und an die erwünschten Schreibweisen "angepaßt", damit das "Reform"-Gebäude wieder stimmig erscheint ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.06.2007 um 15.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9013

Wir brauchen viel mehr CO2-Ausstoß vermindernde Motoren.
 
 

Kommentar von Grammatikhuhn, verfaßt am 12.06.2007 um 13.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9021

Die Komposition "menschenverachtend" muss man doch kontextabhängig betrachten. Man kann sie als »partizipiales Adjektiv« (vgl. Eisenberg, Grundriss) oder als Partizip, das wie ein Adjektiv flektiert und auch ebenso adjektivisch (i. e. attributiv, prädikativ), bezeichnen. Nicht umsonst heisst das Partizip im deutschen Mittelwort.

Die Formulierung "adjektivischer Gebrauch", die besagte Sprachberatungsstelle verwendete, ist doch nur aus dem Regelwerk übernommen - wahrscheinlich deshalb, damit Charlotte dann besser die entsprechende Stelle findet.

Auch ja, liebe Charlotte, "Menschen verachtend" findet sich in dieser Schreibung etwa 3000 Mal im Internet. Man sollte halt sämtliche Flexionsformen gleich mitsuchen, peinlich was ...


 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 12.06.2007 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9023

Auch ja, liebe Charlotte, "Menschen verachtend" findet sich in dieser Schreibung etwa 3000 Mal im Internet. Man sollte halt sämtliche Flexionsformen gleich mitsuchen, peinlich was ...

In der Tat. Gegenüber mehr als einer halben Million Belege für die Zusammenschreibung wirken die 3000 Belege für Getrenntschreibung extrem peinlich...
 
 

Kommentar von Charlotte, verfaßt am 12.06.2007 um 14.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9027

An Grammatikhuhn:
Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Ich habe geschrieben, daß ich bei Google-NEWS gesucht habe, also NUR in Zeitungsmeldungen und nicht im gesamten Internet. Bei Eingabe von "Menschen verachtend" in die Google-SUCHMASCHINE bekommt man die Meldung: Meinten Sie "menschenverachtend"? Die Zahl der Treffer für "Menschen verachtend" habe ich gar nicht aufgeführt. Mein Google findet übrigens über 34.000 mal "Menschen verachtend" ... Davon dürfte das meiste falsch sein.

Von der Sprachberatung erhielt ich übrigens auf Nachfrage nun die folgende Antwort:

"Offenbar ist meiner Kollegin ein Irrtum unterlaufen.
"menschenverachtend" ist natürlich ein Adjektiv. Es handelt sich (wie sie bereits schrieb) um ein aus Substantiv und adjektivisch gebrauchtem Partizip zusammengesetztes Adjektiv. Kein zusammengesetztes Adjektiv liegt dagegen vor, wenn man "Menschen verachtend" - wie es § 36 des amtlichen Regelwerks der deutschen Rechtschreibung ebenfalls vorsieht - als syntaktische Fügung auffasst."
 
 

Kommentar von Grammatikhuhn, verfaßt am 12.06.2007 um 16.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9028

Gut, den Korb nehm' ich gerne. Genauer lesen, danke für den Tipp! Zu bemerken ist hier jedoch, dass Google-News doch nur eine Auswahl an Texten enthält, erscheint der "normale" Google praktischer, weil hier einfach viel mehr Texte enthalten sind und somit der Forderung nach Nähe zu sprachlicher Realität eher entsprochen werden kann (mit allen RS-Fehlern; vgl. Höhne, Sprachnorm und Sprachwandel als konstitutive Faktoren wissenschaftlicher Sprachberatung, 1991. S. 196)

Darüber hinaus bleibt doch der Fakt, dass es beide Schreibungen gibt und dass auch beide vom orthographischen Regelwerk erlaubt werden. Die Sprachgemeinschaft verwendet auch beide Schreibungen. Warum regt sich jeder darüber auf? Es zwingt ja keiner irgend jemanden eine spezielle Schreibung zu verwenden.
 
 

Kommentar von Grammaitikhuhn, verfaßt am 12.06.2007 um 16.19 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9031

Ach ja, ehe ich es vergesse .. wieso sagt denn keiner was zu dem Ausdruck "Mittelwort"? Wieso wird an Kleinigkeiten rumgestritten und aufgegeilt und nichts Sachliches dazu?

Hat eigentlich schon einer von hier einmal selbst im Eisenberg oder der IDS-Grammatik zum Thema "Adjektiv" recherchiert? Wo bleiben die Fakten? Bloße Meinungen finde ich tausende im Netz ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.06.2007 um 17.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9032

Zu "Mittelwort" zitiere ich einfach aus Prof. Icklers Kritischem Kommentar (Zu § 36): "Die grammatischen Tatsachen sind lange bekannt: Im allgemeinen fällt prädikativer Gebrauch mit Verlust des verbalen Charakters zusammen. Es ist unmöglich, das durch Ergänzungen erweiterte, also noch verbal aufgefaßte Partizip prädikativ zu verwenden: '*Dieser Stoff ist Wasser abweisend'. Ferner: Manche Partizipia sind erst mit abhängigem Objekt adjektivisch geworden: teilnehmend, diensttuend, vielsagend, 'dieser Stoff ist wasserabweisend'. Auch Duden Bd 9 stellt zutreffend fest: 'Im allgemeinen wird das erste Partizip nicht prädikativ gebraucht (also nicht: Sie ist diskutierend).'"

Dazu aus meiner Schulgrammatik: Partizipien können nur gesteigert werden, wenn sie reine Adjektive geworden sind.
 
 

Kommentar von Grammatikhuhn, verfaßt am 12.06.2007 um 18.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9033

Schönes Grammatikbuch, der "Kommentar" von Ickler ... na ja, zumindest stimmt es, dass eine Zeitstufe aus "sein" plus Partizip (mit dem englischen present progressive - "I am going" - vergleichbar) nicht existiert.

Gehen wir mal von der These aus, ein Adjektiv sei attributiv und prädikativ verwendbar und auch steigerbar.

Dann muss man fragen: Kann man denn "menschenverachtend" steigern? Ja. Kann man es attributiv verwenden? Ja. Kann man es aber auch prädikativ verwenden? Er ist menschenverachtend; dieses Vorgehen ist menschenverachtend ... so ganz adjektivisch scheint es ja nicht zu sein. (Immerhin geht ja problemlos: er ist grün; dieses Vorgehen ist grün).

Weiter kann man fragen: Kann man denn "tot" attributiv verwenden? Ja. Kann man es prädikativ verwenden? Ja. Kann man es steigern? Nein. Steigern kann man es ja nicht (tot, töter, am tötesten).

Es gibt also Adjektive, die (nun partizipialer Herkunft oder nicht) die nicht also typischen Eigenschaften des Adjektivs erfüllen. Hier - in Wortartfragen generell) sollte man also die Zentrum-Peripherie-These anwenden. Stetter übrigens sagt (sinngemäß): "Die kategoriale Deutung eines Terms ist eine Folgerung aus seinem Gebrauch in der Rede." (Stetter, Die Groß- und Kleinschreibung im Deutschen, 1990. S. 204) Würde ja hier zutreffen.
 
 

Kommentar von Charlotte, verfaßt am 12.06.2007 um 19.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9038

Google-News habe ich gewählt in der - möglicherweise naiven - Annahme, daß in Zeitungen bzw. Online-Ausgaben der Zeitungen - zumindest tendenziell richtig(er) geschrieben wird.

Es geht doch nicht nur darum, daß man zu einer bestimmten Schreibweise "gezwungen" wird. Durch reforminduzierte Fehlschreibungen bzw. nicht sinnvolle, verwirrende Schreibweisen leidet mein Lesevergnügen immens (und ich hoffe, nicht nur meins...).
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.06.2007 um 19.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9039

@Grammatikhuhn: Ein Term ist eine aus Zahlen, Buchstaben und mathematischen Zeichen sinnvoll gebildete Folge, die einen bestimmten Zahlenwert annimmt, wenn man die Buchstaben durch im Definitionsbereich frei wählbare Zahlen ersetzt. Die Menge der Terme bildet einen Körper. Meint Stetter das?
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 12.06.2007 um 19.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9040

Gehen wir mal von der These aus, ein Adjektiv sei attributiv und prädikativ verwendbar und auch steigerbar.

Wie soll man diese Aussage verstehen? Meinen Sie im Ernst, daß ein Adjektiv alle diese Eigenschaften haben muß, um zweifelsfrei eines zu sein?

Dann muss man fragen: Kann man denn "menschenverachtend" steigern? Ja. Kann man es attributiv verwenden? Ja. Kann man es aber auch prädikativ verwenden? Er ist menschenverachtend; dieses Vorgehen ist menschenverachtend ... so ganz adjektivisch scheint es ja nicht zu sein. (Immerhin geht ja problemlos: er ist grün; dieses Vorgehen ist grün).

"Dieses Vorgehen ist menschenverachtend" erscheint Ihnen unmöglich, aber "dieses Vorgehen ist grün" als problemlos. Netter Schabernack. Wie wäre es denn mit "dieses Vorgehen ist äußerst menschenverachtend"? Wollen Sie tatsächlich behaupten, daß hier auch "das Vorgehen ist äußerst Menschen verachtend" stehen könnte?

Weiter kann man fragen: Kann man denn "tot" attributiv verwenden? Ja. Kann man es prädikativ verwenden? Ja. Kann man es steigern? Nein. Steigern kann man es ja nicht (tot, töter, am tötesten).

Nicht jedes Adjektiv läßt sich steigern, das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Genausogut gibt es Adjektive, die nur attributiv verwendet werden können, etwa dortig, linke(r/s), und solche, die nur prädikativ gebraucht werden, wie schuld oder pleite.

Es gibt also Adjektive, die (nun partizipialer Herkunft oder nicht) die nicht also typischen Eigenschaften des Adjektivs erfüllen. Hier - in Wortartfragen

Das zweite "also" sollte wohl "alle" heißen, und der fehlende Text scheint irgendwo verschütt' gegangen zu sein. Ja, es gibt Adjektive, die nicht alle von Ihnen genannten Kriterien erfüllen, aber was wollen Sie denn damit aussagen oder belegen?
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 12.06.2007 um 20.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9041

Unser Grammatikhuhn ist wohl nur ein kleines Hühnchen ...
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 12.06.2007 um 21.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9042

Deshalb müssen wir es aber nicht gleich schlachten. Vielleicht will es ja einfach nur mitspielen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 12.06.2007 um 21.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9044

Also ich würde "tot" mit "tot, toter, am totesten" steigern (ohne ö). Wieso soll das nicht gehen, es wird in #9033 ja vorgeführt. Natürlich weiß jeder, daß es physikalisch unsinnig ist - aufgrund der Bedeutung. Aber im satirischen Bereich kann durchaus geschrieben werden, ob es denn denkbar sei, daß jemand toter sei als jemand anderer...
Was war genau die Fragestellung?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.06.2007 um 23.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9046

Interessant finde ich, daß anscheinend Hühner keinen Korb von einem Rüffel unterscheiden können.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.06.2007 um 00.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9048

Ich möchte darauf hinweisen, daß das Phänomen unterschiedlicher Schreibung bei attributivem und prädikativen Gebrauch nicht nur bei Partizipien sondern auch bei reinen Adjektiven auftritt (der schwerkranke Patient/Der Patient ist schwer krank).
Im übrigen möchte ich davor warnen, bei Fragen der Rechtschreibung grammatikalisch zu argumentieren. Das führt nur zu Pedanterie und Besserwisserei. Rechtschreibung und Grammatik sind nun einmal zwei ganz verschiedene Dinge.
Welcher Schreiber will sich denn ständig fragen, welcher Wortart dieses oder jenes Wort zuzurechnen ist? Die Grammatiker sind sich ja selbst wohl nicht einig. Und wenn man ein Wort nicht recht einordnen kann, erfindet man eben eine neue Wortart.
Deshalb ist ja auch die Regel "Substantive schreibt man groß" so verheerend. Deshalb müssen sich Millionen Deutscher den Kopf darüber zerbrechen, ob in "es tut mir leid/Leid" ein Substantiv, ein verblaßtes Substantiv oder ein Adjektiv vorliegt. Oder welcher Wortart ist wohl "bezug" in "in bezug auf" zuzuordnen?
Prof. Ickler hat ja einen neuen Ansatz versucht mit der Regel "Groß schreibt man das, wovon die Rede ist". Ich fürchte, auch damit ist das Problem nicht gelöst. Wovon ist bei "in bezug auf" die Rede?
Da war die alte Richtschnur des Duden ("Im Zweifel schreibe man klein") doch sehr vernünftig. Ob ich Zweifel habe, entscheide ich selbst, und lasse mir auch vom Duden oder von wem auch immer keine Vorschriften machen.


 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 13.06.2007 um 03.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9049

Verehrter Herr Achenbach, bitte gestatten Sie eine kleine Replik.

"Ein schwerkranker Patient" und "der Patient ist schwer krank" sind m.E. lediglich Schreibkonventionen, die aber der Grammatik nicht widersprechen. Die umgekehrten Fälle, also "ein schwer kranker (ebenso wie "ein sehr kranker") Patient" ist ebenso denk- und konstruierbar wie "der Patient ist schwerkrank", vorausgesetzt es gäbe eine Kategorie "schwerkrank", im Gegensatz zu "leicht Erkrankten" bzw. "Leichterkrankten". Möglicherweise existiert eine solche Kategorie in der Medizin oder im Versicherungsrecht tatsächlich, aber für den alltäglichen Schreibgebrauch wäre die Unterscheidungsmöglichkeit vermutlich gar zu feinziseliert. Ich vermute, daß in diesem Fall in erster Linie das Betonungskriterium den Ausschlag gibt.

Ich glaube auch nicht, daß Grammatik und Orthographie zwei gänzlich verschiedene Dinge sind. Sie sind bloß nicht deckungsgleich. Vielleicht darf ich diesem Zusammenhang an die Mahnung von Herrn Ickler erinnern, daß die Orthographie nicht verbieten kann, was die Grammatik gestattet. Umgekehrt gilt aber das gleiche: die Orthographie kann nicht erlauben oder gar fordern, was die Grammatik verbietet.

Was nun die Groß- und Kleinschreibung angeht, so kommt hier der Intuition der (einigermaßen geübten) Schreibenden eine wichtige Rolle zu, und man mag sich damit abfinden, daß diese nicht immer eindeutige Ergebnisse zeitigt. "In bezug" bzw. "mit Bezug" ist möglicherweise eine Übertreibung der Duden-Redaktion gewesen, aber sie ist nachvollziehbar, und Sie schreiben ja selbst, daß man sich schon fragen muß, von welchem "Bezug" in "in bezug" denn überhaupt die Rede ist. In "mit Bezug" ist dagegen der "Bezug" noch relativ deutlich erkennbar. Bei "leid tun" behaupte ich jedoch, daß einigermaßen geübte Leser und Schreiber, ohne darüber nachzudenken, niemals einen Zweifel daran hatten, wie man hier "leid" zu schreiben hat, und der grammatische Befund ist ja eindeutig. Die Unsicherheit kam erst mit der sogenannten Reform auf, zumal es weiterhin "leid sein" heißen sollte.

Die Icklersche/Munskesche Formel "Groß schreibt man das, wovon die Rede ist" mag nicht der Weisheit letzter Schluß sein, denn es bleibt das Problem der Pronomen und außerdem die Grauzone im Bereich "feste Wendungen", Metaphern etc. Die Duden-Redaktion hat mit ihren Einzelfestlegungen gewiß zur Verunsicherung beigetragen, aber die Formel ist ausgesprochen hilfreich, weil sie ausdrückt, daß man schreiben soll, was man meint. Auch Ihr Verweis auf die "goldene" Duden-Regel "Im Zweifelsfalle klein" ist durchaus angebracht, und man könnte sie umkehren zu: "Die Großschreibung will verdient/begründet sein". Freilich ließen sich auch damit nicht alle Zweifelsfälle aus der Welt schaffen, aber man hätte eine (hoffentlich) handhabbare Faustregel zum sinnvollen Schreiben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2007 um 06.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9050

Meine Formel sollte auch nicht der Weisheit letzter Schluß sein, sondern ist in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Zu erklären war die Intuition geübter Schreiber und Leser sowie der Vorteil, der lesepsychologisch aus der Kleinschreibung grammatikalisierter ehemals substantivischer Ausdrücke erwächst. Ich glaube immer noch, daß diese Intuition mit der Formel von den "Redegegenständen" besser erfaßt ist als mit der alten Regel über die Auszeichnung einer Wortart. Letztere Regel hat bekanntlich die beiden Riesenkomplexe von Ausnahmen und überzeugt daher nicht.

Der Zusammenhang zwischen Grammatik und Rechtschreibung, lieber Herr Achenbach, ist meiner Meinung nach sehr eng, aber um richtig schreiben zu können, braucht man keine expliziten Grammatikkenntnisse, da haben Sie wieder recht. Das Explizitmachen der erfahrungsgesättigten Intuitionen ist Sache der Linguisten.

Was die Einlassungen des Huhns betrifft, so möchte ich darauf nicht antworten, weil alles vom Huhn Vermißte hier und anderswo schon hundertmal dargestellt worden ist. Man muß sich bloß die Mühe machen, ein wenig zurückzublättern.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.06.2007 um 08.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9053

Klaus Achenbach: „Welcher Schreiber will sich denn ständig fragen, welcher Wortart dieses oder jenes Wort zuzurechnen ist?“
Sehr richtig. Und ich stelle dieser eine zweite Frage an die Seite: Welcher Schreiber will sich denn ständig fragen, zu welchem Wortstamm ein Wort gehört? Das aber fordern Rechtschreibübungsbücher für die Schule. Schüler sollen anhand theoretischer Regeln die richtige Schreibweise herausfinden. Sozusagen als kleine Rechtschreibwissenschaftler. Beispiel: die s-Schreibung. (Das Eszett als optisches Signal für den Silbenschluß hat man ja fortschrittlicherweise eliminiert, damit die Schüler endlich das Denken lernen und nicht mehr so stur-mechanisch dahinschreiben müssen!)
Nur wer die Wortbilder verinnerlicht hat, kann intuitiv „richtig“ schreiben. Fragen zu Wortbildung oder Grammatik helfen bei eher seltenen Zweifelfällen, denen auch ein geübter Schreiber (oder eben gerade dieser!) begegnet. Regeln sind Krücken. Zum Laufen taugen sie nicht. Das müßten Lehrer erst einmal begreifen.
Was brauchen wir? Ein klares Wortbild und Analogien, die sich einfach aufdrängen und von allein vermehren – wer kann da schon so genau wissen, wie das funktioniert. Über „unsichtbare Hände“ wird zu Unrecht gelästert. Aber sie wirken nicht nur in der Wirtschaft, sondern überall in der Schöpfung.

 
 

Kommentar von Grammatikhühnchen, verfaßt am 13.06.2007 um 10.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9056

Wer im Glashuhn sitzt, sollte nicht mit Grammatiken werfen.

An Schaefer:
Die drei adjektivischen Verwendungsmöglichkeiten (attributiv, prädikativ, adverbiell) und die Komparierbarkeit sind als Bedingungen gedacht, die helfen sollen, die Wortform einer Wortart zuzuordnen, und deutlich machen sollen, dass eine Wortform oft nicht 100%ig einer einzigen Kategorie zuordnbar ist.

Dabei wären die drei Verwendungsmöglichkeiten eher notwendige Bedingungen; die Komparierbarkeit lediglich eine hinreichende.
Bezüglich menschenverachtend/Menschen verachtend im speziellen: Es gibt neben der (adjektivischen?) Zusammensetzung (menschenverachtend) eben auch die eher syntaktische Verbindung (Menschen verachtend). Das neue Regelwerk verfährt nun eindeutig, dass bei einer Erweiterung (äußerst menschenverachtend) zusammengeschrieben wird (vgl. § 36 E3).

An Strasser:
tot ließe sich auch in Analogie zu "rot" mit Umlaut steigern.

An Pfeiffer-Stolz:
Wortbilder sind in der Tat eine wichtige Stütze bei der Erlernung der Orthographie. Aber dies funktioniert nicht bei jedem. Zum Beispiel bei Legasthenie beißt man dabei auf Granit, aber nicht nur Legasthenikern fehlt die Fähigkeit dieser Wortbildauf- und -wiedergabe.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.06.2007 um 10.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9057

Liebe Hühner und Hennen aus dem Grammatikstall!
Der Einwand hat mich wirklich betroffen gemacht. Legasthenie ist in der Tat eine furchtbare Erkrankung des Gesellschaftskörpers. Geradezu seuchenartig ergreift sie immer größere Bevölkerungsgruppen. Man prüft gerade, ob diese Krankheit ansteckend ist. Sollte sich diese beängstigende Vermutung als richtig herausstellen, müßte dies bei der räumlichen Organisation des schulischen Unterrichts (Sitzordnung) berücksichtigt werden. Hier kommen gigantische Auf- und Ausgaben auf den Bildungssektor zu.
Über die Ursachen für die eigenartigen, leseunfreundlichen Verformungen im menschlichen Gehirn ist man sich bislang uneinig. Manche vermuten kosmische Einflüsse (Klimaerwärmung), andere sehen einen Zusammenhang mit der modernen Ernährung (McDonalds). Nur ganz dümmliche und stockkonservative Stimmen meinen, durch Übung sei etwas zu machen und – der Gipfel der Torheit sowie eine Unverschämtheit gegenüber den Betroffenen und deren unsäglichem Leid – die sogenannten Legastheniker würden bloß zu wenig lesen und schreiben! Solche Theorien sind längst widerlegt und müssen nicht immer wieder diskutiert werden. Um Legastheniker zu werden, braucht man eben überhaupt nicht zu lesen und zu schreiben, das ist ja schon Beweis genug, daß diese konservativen Stimmen unrecht haben!

Bemühen wir uns also um einen Ausweg! Der fortschreitenden Legasthenisierung werden wir allein durch extensiven Computereinsatz begegnen können. Wir brauchen Taschencomputer für die schriftliche Kommunikation. Damit wird Lese- und Schreibkompetenz überflüssig. Jedem seinen Mini-Sprech-Schreib-Computer! Welche Zeitersparnis in der Schule! Rechtschreibunterricht, ja Schreib- und Leseunterricht kann ganz ausfallen. Wir können uns dann den viel wichtigeren Themen zuwenden, nämlich den politischen und gesellschaftspolitischen Dingen: Wählen mit 10, Artenschutz, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Benimm-Regeln für das Betreten einer Moschee, Rauchen, Trinken, Essen, Chinesisch usw. Bis es jedoch soweit ist, sollten flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen eingeführt werden, am besten gleich nach der Geburt. Eine Mehrfachimpfung könnte zuverlässig vor Legasthenie und Rechenschwäche, sowie insgesamt vor Verblödung schützen. Forschung und Politik arbeiten emsig Hand in Hand. Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben!

 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.06.2007 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9059

Die zeitliche Korrelation zwischen der Zunahme von Mobiltelefonstrahlungen und Legastenie läßt zwangsläufig auch an diese Ursache denken. Wer weiß, was in den Köpfen mancher Leute vorgeht, rein medizinisch natürlich.
 
 

Kommentar von Vardapet, verfaßt am 13.06.2007 um 12.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9060

Im neuen Trierer Trendmagazin BULLSEYE liest man bereits im Vorwort:

- Grossraum Trier
- Es ist schon einiges, interessantes in Planung. Seit gespannt!
- Spass
- Es grüsst Euch ...

Aber warum sollte man auch in einem ganz für das Auge geschaffenen Heft lesen wollen? Frappierend ist nur die Selbstsicherheit, mit der das Ganze vermittelt wird. Die erinnert an das zwar als Scherz gemeinte, mittlerweile jedoch zur Realität "geronnene" Leoparden-Paradox-Büchlein Sebastian Hakelmachers und dessen ewige Wahrheiten:

"Wer die Übersicht verloren hat, sollte wenigstens Entscheidungen treffen". "Ein Manager ist jemand, der nicht arbeitet, damit er die Übersicht nicht verliert, die er braucht, um anderen Arbeit zuweisen zu können". "Topmanager zeichnen sich meistens dadurch aus, daß sie Inkompetenz mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein verbinden".
 
 

Kommentar von Bullshit, verfaßt am 13.06.2007 um 13.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9062

Man kann seinen Augen kaum trauen:
"Ganzkörperfotto"
"Grösse, Gewicht, Maße" usw.

Da rollt in den nächsten Jahren was auf uns zu ...
 
 

Kommentar von GL, verfaßt am 13.06.2007 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9066

Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.06.2007 um 10.50 Uhr

(Um Legastheniker zu werden, braucht man eben überhaupt nicht zu lesen und zu schreiben, ...)

Doch eher Illettrismus als Folge nicht rechtzeitig erkannter Legasthenie während der Kindheit, oder etwa nicht?

Haben Sie es wirklich nötig, Teilnehmer dieses Forums als Hühner und Hennen anzusprechen? Gackeln können diese doch wirklich selber!
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 13.06.2007 um 19.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9068

Grammatikhuhn: „Dabei wären die drei Verwendungsmöglichkeiten eher notwendige Bedingungen; die Komparierbarkeit lediglich eine hinreichende.“

Beides ist nicht ganz richtig. Das Wort quitt wird nur prädikativ verwendet, ist aber ein „Vollblutadjektiv“. Ein Grenzfall liegt schon deshalb nicht vor, weil nicht erkennbar ist, welche andere Wortart denn in Betracht kommen soll. (Augst würde es vielleicht als Variante des Substantivs Quitte deuten.) In der Dudengrammatik, Randziffer 450-453, sind weitere defektive Adjektive aufgeführt. – Andererseits ist oft komparierbar, aber sicher kein Adjektiv.

„Es gibt neben der (adjektivischen?) Zusammensetzung (menschenverachtend) eben auch die eher syntaktische Verbindung (Menschen verachtend).“

Die beiden Ausdrücke sind aber nicht gleichbedeutend. Menschen verachtend läßt offen, ob es um die gesamte Menschheit oder nur um einige Menschen geht, während bei menschenverachtend eindeutig das erste der Fall ist. Außerdem gibt es zwar menschenverachtendes Gedankengut, aber kein Menschen verachtendes, denn nicht das Gedankengut verachtet, sondern der Mensch, der es hegt. (Erwägenswert ist übrigens, ob das -en- in menschenverachtend die Pluralendung oder ein Fugenzeichen ist; ich neige zu letzterem.) – Warum erkennen Sie menschenverachtend nicht als eindeutiges Adjektiv an? Welche andere Wortart käme denn in Frage? Halten Sie es für ein Partizip? Aber von welchem Verb denn? Vielleicht von menschenverachten?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.06.2007 um 23.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9069

Das ist schon ein interessantes Gebiet, welche Partizip I zu prädikativ verwendbaren (mit "sein" verbundenen) Adjektiven werden können und welche nicht. Bei einfachen Verben geht es meist nicht, oft aber mit einem Präfix oder Verbzusatz oder inkorporierten Objekt oder einer inkorporierten Artergänzung und besonders gut bei idiomatisierten Bedeutungen. Aber allgemeine Regeln dafür kenne ich nicht.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.06.2007 um 16.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9085

Sehr geehrter Herr Schaefer,
wir befinden uns hier in einem Diskussionsforum, und deshalb ist mir jede Replik – ob groß oder klein – willkommen.
Zunächst eine Klarstellung: Mein Hinweis auf die Zusammen- oder Getrenntschreibung hatte mit meinen Äußerungen zu Grammatik und Rechtschreibung nichts zu tun, sondern sollten nur darauf aufmerksam machen, daß die in diesem Strang erörterten Fragen sich nicht nur auf Partizipien beschränken.

Ich wollte auch keineswegs behaupten, daß Grammatik und Rechtschreibung nichts miteinander zu tun haben. Die Sprachintuition, die den Schreibenden zu der einen oder der anderen Schreibweise führt, hat sicherlich oft mit Grammatik zu tun, aber oft auch mit Semantik und mit schlichter Analogie. Ich habe daher nichts dagegen, wenn man versucht, diese Sprachintuition auch mit grammatischen Überlegungen besser zu verstehen.

Was ich ablehne, ist aber der Versuch, mit grammatischer Räsonniererei bestimmte Schreibungen dogmatisch als \"falsch\" oder \"richtig\" hinzustellen. Vor allem das endlose Sinnieren über Wortarten finde ich äußerst unproduktiv und ermüdend. Selbst innerhalb der Grammatik ist solcher Dogmatismus verfehlt. Nehmen wir den Ausdruck \"diesen Jahres\". Ob man das sagen kann, hat nichts mit Rechtschreibung zu tun, sondern ist eine rein grammatische Frage. Und dieser Ausdruck ist ja auch grammatisch problematisch, sonst würden sich die Leute nicht den Kopf darüber zerbrechen. Ich lehne es aber ab, ihn – wie die Duden-Sprachberatung - einfach für falsch zu erklären, denn er ist nun einmal sehr verbreitet. Und auch über die Grammatik entscheidet letztlich nur der Usus.

Prof. Ickler hat tatsächlich gesagt: \"Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten.\" Das war im Zusammenhang mit den Schreibungen \"Auto fahren\" und \"radfahren\". Ich bin auch der Meinung, daß man \"Rad fahren\" nicht verbieten sollte. Aber mir ist nicht klar, was das überhaupt mit Grammatik zu tun hat. Man könnte doch durchaus auch \"autofahren\" schreiben, nur ist das eben heutzutage nicht üblich. Mir scheint hier eher ein reines Analogieargument vorzuliegen, nämlich: Wenn man \"Auto fahren\" und \"Fahrrad fahren\" schreibt, warum nicht in dem scheinbar ganz gleich gelagerten Fall auch \"Rad fahren\"?

Laut Duden soll man auch \"Ski laufen\" schreiben, obwohl ich eher zu \"skilaufen\" neigen würde und man im Internet auch viele Beispiele dafür finden kann.

Analogieargumente sind eben nicht ungefährlich. Die Reformer wollten uns - analog – ja auch \"Eis laufen\" und \"Kopf stehen\" vorschreiben, was aber der Sprachintuition vieler Menschen stark widersprach. Nun ist der Rechtschreibrat ja erfreulicherweise wieder zu \"eislaufen\" zurückgekehrt.

 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.06.2007 um 18.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9088

Auch über die Grammatik entscheidet letztlich nur der Usus. Herr Achenbach hat recht. Einfaches Beispiel: der Wegfall der früheren Dativendungs-e im Singular der maskulinen und neutralen Substantive.
 
 

Kommentar von heinz-ludwig, verfaßt am 14.06.2007 um 19.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9089

Gutes Beispiel. Gerade aus meiner täglichen Erfahrung mit Texten von Übersetzerkollegen kann ich das bestätigen. Allerdings eher mit Bedauern, denn "des Bilds" und "des Dialogfelds" klingen doch irgendwie amputiert. Finden Sie nicht?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.06.2007 um 20.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9091

Durch den Wegfall der Dativendungen, z.B. "dem Mann[e]", oder auch die Endung -en wie bei "dem Bär[en]" ändert sich m.E. die Grammatik überhaupt nicht, denn auch wenn sich der Dativ wie der Nominativ anhört, bleibt es doch der Dativ. Ich denke, dies ist eher ein phonetisches Problem. Sicher ändert sich auch die Grammatik, aber was für die Rechtschreibung ein Jahr ist, ist für die Grammatik, schätze ich mal ganz grob, mindestens ein Jahrhundert.

Was "diesen Jahres" betrifft, so ist das bei weitem noch nicht so stark verbreitet wie z.B. die Redensart "Menschen aus aller Herren Länder", die grammatisch richtig "aus aller Herren Ländern" heißen müßte. Letzteres ist eine echte Ausnahme, sie hat sich wohl eingebürgert, weil sie etwas schwerer durchschaubar ist. Aber ansonsten ist die Grammatik für die Sprache so etwas wie die Mathematik für die Naturwissenschaften. Und aufgrund dessen ist "diesen Jahres" eindeutig falsch.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.06.2007 um 21.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9092

Noch eine Variante: "Die Diskussion ist sehr Datenschutz-geprägt". (gefunden bei www.heise.de von heute)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.06.2007 um 22.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9094

Die Existenz von Fällen hängt durchaus von Formen ab, die sie anzeigen. So überlebt der Dativ im Englischen nur noch in him, her und whom, wobei letzteres im amerikanischen Gebrauch nahezu ausgestorben ist.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.06.2007 um 23.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9095

Das würde mich nun wirklich interessieren, ob der Dativ und analog der Akkusativ im Englischen als solche am aussterben sind, oder ob nur die Formen aussterben, in denen diese Fälle noch sichtbar sind.
Meiner Meinung nach ist "you" in "I give you the book" genauso ein Dativ wie "dir" im Deutschen, und in "I can see the tree" ist "the tree" ein Akkusativ, auch wenn man's nicht mehr am Artikel oder an der Endung sieht.
Also sterben im Englischen wirklich die Kasus aus, verändert sich also die Grammatik, oder ist es nur so, daß sie einfach nicht mehr sichtbar, aber dennoch vorhanden sind?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.06.2007 um 00.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9096

Völlig unsichtbare Fälle gibt es so wenig wie den gegenwärtigen König von Frankreich, alles andere wäre eine überzogen universalgrammatische Auffassung. Anderes Beispiel: In Wörtern wie Löffel ist der Plural nicht markiert. Würde der Plural im Deutschen immer so gebildet, gäbe es ihn nicht (so wie im Japanischen).
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 23.06.2007 um 19.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9173

Zu Herrn Riemer (#9091):
Was der eine "eindeutig falsch" nennt, das nennt der andere eine "Ausnahme".
 
 

Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 23.06.2007 um 21.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9174

Ebenfalls zu #9091: Was wäre, wenn man am Ende diesen Jahres "eindeutig falsch" findet, vom Ziel jeden Bemühens zu halten? ("Das Ziel jeden Bemühens" sei zu sich selber zu kommen, so Friedrich Dürrenmatt. Denn nur, wer das erreicht habe, "vermag das ihm Auferlegte zu unternehmen: der Welt durch sich selber einen Sinn zu geben.") Müßte das nicht als genauso falsch gelten?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.06.2007 um 11.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9194

Mit "eindeutig falsch" meinte ich nichts anderes als einfach nur falsch, nicht etwa eine Art Steigerung von falsch. Das geht ja genausowenig wie etwa "halbfalsch". Man kann sich bei "diesen Jahres", "jeden Bemühens" usw. nur entweder für richtig oder für falsch entscheiden. Das Wort tolerierbar bedeutet im Grunde das gleiche wie richtig. Wenn wir diese klare Unterscheidung in richtig und falsch nicht treffen, können wir gleich alle grammatischen und orthographischen Regeln vergessen. Dann wäre die alte Rechtschreibung genauso überflüssig wie die Reform.

Wenn ein Schüler in der Schule schreibt "ich freue mir", wird der Lehrer das unweigerlich als falsch anstreichen, dem Schüler wird es kaum etwas nützen, wenn er dafür per Google einen Internetbeleg vorweist. Also eine einzelne abweichende Schreibweise oder grammatische Form wird sicher noch als falsch bewertet. Wie viele Abweichungen müssen es dann sein, damit ein ehemaliger Fehler als richtig gilt? Reichen, sagen wir, etwa 50% aller Vorkommen aus?

Ich glaube, "diesen Jahres", "jenen Winters" usw. ist (noch) nicht allgemein anerkannt, deshalb als falsch zu bewerten. Und nur weil unter den Befürwortern "jeden Bemühens" auch ein berühmter Schriftsteller ist, muß das noch nicht richtig sein. Schriftsteller sind auch nur Menschen. Allerdings kann man in diesem Fall vielleicht anführen, daß man manchmal auch "eines jeden Bemühens" sagt, hier ist jeden als Adjektiv benutzt und dementsprechend richtig dekliniert. Vielleicht hat Dürrenmatt es ja so gemeint. Bei "dieses" geht das nicht.

Am weitesten hat sich diese Art Genitiv wohl schon bei dem Wort aller, alle, alles eingebürgert: "Ziel allen Strebens" usw. Vielleicht kann man dieses sogar schon richtig nennen?
Es ist ein ganz interessantes Thema. Ich sage hier nur meine Meinung, nehme gern Korrekturen von kompetenterer Seite an.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 25.06.2007 um 12.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9195

@germanist (#9032)

Die Faustregel aus Duden Bd. 9 ist eine echte Milchmädchenrechnung. Es hängt zum einen von der semantischen Subklase ab, zu der das Verb gehört, und davon, welche Prädikativ-Konkurrenten des Partizips I im Lexikon zur Verfügung stehen.

Die fragwürdige "statistische" Feststellung, daß Partizipia I als Prädikative selten sind, berücksichtig nicht die Textsortenspezifik und scheint zudem ungeprüft. Freilich kann man immer ein Verb finden, dessen Partizip I als Prädikativ einfach ungrammatisch ist. Das besagt aber absolut nichts.
 
 

Kommentar von NZZ online (sda/dpa/apa), 17. Juli 2007, 16:00, verfaßt am 18.07.2007 um 00.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9603

Teile Europas haben am Dienstag unter Rekord verdächtigen Temperaturen nur knapp unter 40 Grad gelitten.

http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/ europa_stoehnt_unter_schwueler_hitze_1.529273.html
 
 

Kommentar von Ph. K., verfaßt am 18.07.2007 um 10.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9610

Ich verfolge die Diskussion um diesen Jahres vs. dieses Jahres bereits seit einiger Zeit mit gemäßigter Belustigung. Wir sollten uns nicht scheuen, ein für allemal klarzustellen, daß diesen Jahres nur das Produkt eines Mißverständnisses sein kann. Ich spreche ja auch nicht vom Bein diesen Tisches.
 
 

Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 18.07.2007 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9618

(Zu #9610) Lieber Herr Köster, dann möchte ich Ihnen empfehlen, hier oben links diesen Jahres einzugeben und unter den Ergebnissen wenigstens den Kommentar von Herrn Ickler (3.10.2006) zu lesen (zu seinem Tagebucheintrag "Rote Bäckchen").
Für mich ist der Gebrauch von diesen Jahres nicht falsch oder richtig, sondern abhängig vom Kontext, von der Textsorte. Es wirkt sachlicher, trockener als dieses Jahres, zuweilen auch etwas (allzu) amtlich.
Wenn nun z.B. Herr Schatte "...am Tag der Einheit diesen Jahres (2006)..." schreibt (#4956 zu den "Nachrichten" vom 4.8.06), so trifft er für meinen Geschmack genau den rechten Ton. Es ist für mich, mit anderen Worten, eine Stilfrage.
 
 

Kommentar von Ph. K., verfaßt am 18.07.2007 um 14.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9620

Gut, Herr Herter, vielleicht habe ich eine andere Sicht auf die Dinge, weil ich eine Nordleuchte bin. Nicht zuletzt ist es mein Interesse an den vielen deutschen Dialekten, die mich auf diese Seiten getrieben haben. Die Bilanz diesen Jahres geht für meine Begriffe gar nicht, und sie würde mich sogar den Vorstandschef der Porsche AG (von dem ich das schon gehört habe) auslachen lassen, obwohl ich ihn für einen recht guten Unternehmer halte. Doch sei es nun einmal drum -- die Dialekte sind eben verschieden.
 
 

Kommentar von R. H., verfaßt am 18.07.2007 um 16.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9623

Da können Sie beruhigt sein, Herr Köster, ich finde Ihr Porsche-Zitat so scheußlich wie Sie.
In allen Beispielen (mit der Ausnahme von "jeden Einflusses bar", das Herr Ickler bringt) geht es um die Angabe eines Zeitpunktes (#9174 in diesem Strang: "am Ende diesen Jahres", bei Herrn Schatte: "am Tag der Einheit diesen Jahres" sowie jenen unter "Rote Bäckchen" aufgeführten). Diese Verwendung ist es, die ich für so verbreitet halte, daß man sie "üblich" nennen muß und nicht einfach als "falsch" unter den Tisch kehren kann.
(Im übrigen bezweifle ich die Herkunft aus Dialekten.)
 
 

Kommentar von Charlotte, verfaßt am 25.07.2007 um 20.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9794

Ich komme nochmal zurück auf das eigentliche Thema:
Gilt die Schreibweise "eine Menschen verachtende Verhaltensweise" nach der "Rechtschreibreform" als richtig oder nicht?

Von der Wahrig-Redaktion erhielt ich dazu heute folgende Antwort:

"Ihre Anfrage wurde vor einiger Zeit von unserer Sprachberatung an die WAHRIG-Redaktion weitergeleitet. Leider haben wir nicht früher die Zeit gefunden, sie zu beantworten.

Die Frage nach der Zulässigkeit der Schreibung „Menschen verachtend“ bei attributivem Gebrauch lässt sich leicht beantworten. Gemäß amtlichem Regelwerk ist die Schreibung „eine Menschen verachtende Verhaltensweise“ korrekt (vgl. unten angehängten Abschnitt § 36 (2.1)). Sie ist in den Rechtschreibwörterbüchern entsprechend dokumentiert. Wie Sie der WAHRIG-Hausorthografie „Ein Wort – eine Schreibung“ entnehmen können, empfiehlt die WAHRIG-Redaktion allerdings die im Schreibgebrauch stärker verbreitete Variante „menschenverachtend“. Die empirische Grundlage für diese Beobachtung ist unser WAHRIG Textkorpusdigital, das rund 900 Millionen Wortbelege umfasst.

Mit den besten Grüßen"

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.07.2007 um 04.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9796

Ja, die Auskunft ist richtig. Sowohl die Frage als auch die Antwort beziehen sich ja ausdrücklich auf die Neuregelung und nicht darauf, ob die Schreibweise Menschen verachtend grammatisch sinnvoll oder leserfreundlich ist.

Zum Tagebucheintrag, Zitat der ursprünglichen Auskunft:

"menschenverachtend" ist kein Adjektiv, sondern eine Verbindung von Substantiv ("Mensch") und adjektivisch gebrauchtem Partizip ("verachtend").


Die Wahrig-Redaktion hätte schreiben sollen:

"menschenverachtend" ist im Sinne der Regeltextes kein Adjektiv, sondern eine Verbindung von Substantiv ("Mensch") und adjektivisch gebrauchtem Partizip ("verachtend").

Gemeint war offensichtlich: Unter welcher Rubrik findet man den einschlägigen Paragraphen? Gemeint war nicht: menschenverachtend ist kein Adjektiv. Aber genau dies steht so da, deshalb ist die Formulierung zu beanstanden. Die Auskunft der Wahrig-Redaktion, die Charlotte soeben zitiert hat, ist deutlicher: Gemäß amtlichem Regelwerk ... (vgl. unten angehängten Abschnitt § 36 (2.1)).

Ein Unding ist natürlich der ganze Tonfall von wegen "Zulässigkeit" einer Schreibweise, denn gemäß amtlichem Regelwerk werden auch völlig einwandfreie, sinnvolle, gebräuchliche und leserfreundliche Schreibweisen als "unzulässig" eingestuft. Das kommt dabei heraus, wenn sich Wörterbuchredaktionen wie Duden und Wahrig sowie sonstige Anwender den verkorksten "amtlichen" Regeln sklavisch unterwerfen.

 
 

Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 26.07.2007 um 10.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9798

... empfiehlt die WAHRIG-Redaktion allerdings die im Schreibgebrauch stärker verbreitete Variante „menschenverachtend“. Die empirische Grundlage für diese Beobachtung ist unser WAHRIG Textkorpusdigital, das rund 900 Millionen Wortbelege umfasst.

Na bravo! Was kommt wohl heraus, wenn die WAHRIG-Redaktion die 900 Millionen Wortbelege mal wirklich genauer unter die Lupe nimmt? Möglicherweise sind diese noch nicht durch den Rechtschreibkonverter gelaufen und somit noch authentisch. (Im Gegensatz zu den im 10bändigen Duden zitierten...)
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.07.2007 um 12.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9799

Unbeirrbar und unheilbar
Wann endlich wird den Orthographen (z.B. bei Bertelsmann) dämmern, daß Schreibungen eines oder mehrerer Wörter davon abhängen, was verschriftet wird. Sie sind also durch die Äußerung (/ den Gedanken) bedingt, die (/ der) schriftlich niedergelegt ist. Solange Orthographen nicht versuchen, ihre z.B. 900 Millionen Wörter wieder zu Äußerungen bzw. Sätzen zu verkitten, ist Hopfen und Malz verloren. Wenn sie es denn täten, sollten sie -- übers Wochenende etwa -- neunzigtausend Sätze hinsichtlich der Schreibung des Gesagten analysieren. Das brächte gewiß zum einen überraschende, zum andern aber auch halbwegs valide Ergebnisse.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.07.2007 um 13.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9800

Es wäre gut, wenn Grammatikhuhn z.B. das Korn fände, was Germanist in diesem Strang bereits am 10. Juni (851#9002) eingetragen hat, dann würde sich die Aufwärmung von "Mittelwort" erübrigen.

Komparierbakeit ist für Adjektive nicht kriterial (s. Adverbien). Kriterial ist ihre Distribution: Sie können (flektiert) zwischen Determinativ und Nomen (die "Nominalklammer") treten. Alle weiteren Eigenschaften (als Prädikativ etc.) sind nicht kriterial, weil Elemente anderer Wortklassen zumindest teilweise dieselben haben.

Das Partizip ist keine Wortart, sondern eine abgeleitete Wortform, die adjektivierbar ist. Dabei paßt Partizip II ins Verbalparadigma, Partizip I indessen nur ins Paradigma der Kopulaprädikate, weshalb es "nominaler" als das erste gilt.

Partizipialkomposita mit Nomen als Erstelement (s. Germanist 851#9002) sind bis auf wenige Sonderfälle Adjektivpartizipien. Was solche von reinen Partizipien unterscheidet, steht nicht in Grammatiken, die vom "Mittelwort" handeln, sondern in neueren mit nicht allein didaktischem, sondern auch wissenschaftlichem Anspruch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.07.2007 um 16.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9801

Lieber Herr Schatte, wieso paßt ausgerechnet das Partizip I ins Paradigma der Kopulaprädikate? Im Deutschen haben wir ja gerade kein "er ist kauend" - es ist zumindest stark markiert. Dagegen haben wir es durchaus verbal in Partizipialsätzen wie: "Stillvergnügt sein Brot kauend, beobachtete er die Streithähne."
Oder mißverstehe ich Sie, vielleicht nur im Terminologischen?
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.07.2007 um 19.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9802

Lieber Herr Ickler, in der Gegenüberstellung ging es mir lediglich darum, daß Partizipia II im Gegensatz zu Partizipia I ins Verbalparadigma gehören. Das Partizip I indessen, wenn möglich, nur als Prädikativ ins Kopulapradikat.

Freilich lassen sich nicht alle Partizipia I als Prädikativ verwenden, und manche nur in stilistischer Not. Im Falle von kauen und anderen solchen Verben haben wir als Ersatz höchstens das evtl. als ugs. markierte er ist am Kauen über die die Sekundärprädikation in Kauend begrüßte er ihn aufgelöst werden könnte.

Wenn man allerding wie Herr Schaefer (851#9040) meint, es gäbe "Adjektive", die nur Prädikativ sein können, löst man die Definiton des Adjektivs auf. Es handelt sich bei den von Herrn Schaefer genannten Lexemen und bei solchen wie gram, quitt, leid, schuld um Prädikativpartikeln, die ausschließlich als Prädikativ (also auch nicht adverbial) fungieren können.
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 26.07.2007 um 19.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9803

Freilich lassen sich nicht alle Partizipia I als Prädikativ verwenden, und manche nur in stilistischer Not.

Könnte man nicht, wenn ein erstes Partizip als Prädikativ verwendet wird (sie ist reizend), auch von einem eigenständigen Adjektiv reden, das sich aus dem entsprechenden Partizip entwickelt hat? Dafür spricht auch die Semantik: das Adjektiv reizend hat eine andere Bedeutung als das Partizip reizend.

Bei Ihrer Formulierung „nicht alle“ frage ich mich, wie häufig erste Partizipien sind, die auch als Prädikative verwendet werden (bzw. zu denen es gleichlautende Adjektive gibt, die auch als Prädikative verwendet werden). Ich vermute, es handelt sich um eine recht seltene Erscheinung.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 26.07.2007 um 23.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9806

Zum prädikativ gebrauchten Partizip I möchte ich meinen Eintrag in diesen Strang unter Nr. 851#9069 vom 13.6., 23.14 Uhr, noch einmal in den Ring werfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.07.2007 um 07.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9807

Wie Herr Konietzko schon gesagt hat, läßt sich das Partizip I in der Tat (fast) nur dann als Prädikativum verwenden, wenn es schon reines Adjektiv geworden ist (unter Aufgabe der Verbrektion, oft aber unter Zugewinn an Komparierbarkeit). Mir ist bekannt, daß manche Grammatiker (wie Eisenberg) das Partizip I mit der Begründung aus dem verbalen Bereich ausschließen wollen, daß es nicht zur Bildung periphrastischer Verbformen diene. Ich habe dieses Argument nie verstanden. Warum soll eine Form nur dann verbal sien, wenn sie zur Bildung anderer Verbformen dient? Das Partizip I ist eben einfach eine Verbform, und selbst die Vertreter jener seltsamen Meinung können nicht umhin, ihm eine Sonderrolle zuzuschreiben, schon wegen der auffälligen vollständigen Vererbung der Rektionseigenschaften und der adverbialen Modifizierbarkeit.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 27.07.2007 um 13.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9810

Sehr selten werden Partizipia I als Prädikativ besonders dann, wenn man allein das Kopulaverb sein im Auge hat. Es gibt noch die Kopulaverben werden und bleiben; scheinen indessen ist keins.

Die Menge der als Prädikativ erscheinenden Partizipa I entscheidet nicht über die disjunkte Distribution beider Partizipien und ihre mit "Aktiv" und "Passiv" nicht erfaßten semantischen Eigenschaften. Die Verwendbarkeit als des Partizips I Prädikativ hängt davon ab, inwieweit das vom Verb Erfaßte als Eigenschaft eines Gegenstandes gelten kann oder soll. Mein Beitrag sollte also keinesfalls entzweiend, sondern erhellend sein, auch wenn er am Ende vielleicht lediglich verwirrend war.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.07.2007 um 21.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9812

Wenn ich Herrn Schatte richtig verstehe, hat die Wortform Partizip als Untermengen die beiden Wortarten Adjektiv und Verb (wobei das Adjektiv auch als Adverb verwendet werden kann).

Nur die Wortart Verb kann ein Akkusativobjekt in getrenntgeschriebener Form haben, die Wortart Adjektiv aber nur in inkorporierter Form, also als zusammengeschriebenes Gesamt-Adjektiv.

Wenn ich Herrn Ickler richtig verstehe, kann die Wortart Verb höchstens in Sonderfällen prädikativ (mit sein) verwendet werden.

Folglich sind prädikative Verwendungen von Partizipien mit getrenntgeschriebenem Akkusativobjekt in den meisten Fällen Grammatikfehler.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2007 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9813

In meinem Kritischen Kommentar hatte ich den wichtigsten Ausnahmefall so dargestellt:

Besondere Umstände können die Härte einer solchen Verwendung mildern, vgl.: Aufschlußreich und die Textkorpusauswahl unserer Untersuchung bestätigend ist aber beispielsweise die Feststellung ... (Bergmann/Nerius: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700. Heidelberg 1997, S. 9) – Hier ist es der Parallelismus mit dem Adjektiv. Ähnlich im harten philosophischen Stil: Sie (die Seele) ist Gott suchend, liebend und schauend und zu den höchsten menschlichen Strebungen fähig. (Gerd Jüttemann et al. [Hg.]: Die Seele. Weinheim 1991, S. 6) Nahezu appositionell wirkt folgende Passage: Erna Hanfstaengl war damals in den hohen Dreißigern, sehr gut aussehend, weltgewandt, reich an Lebenserfahrung. (Rudolf Nissen: Helle Blätter, dunkle Blätter. Stuttgart 1969, S. 83)

Hier ist noch ein weiterer Beleg: [i]Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war der Drang der Menge, die in diesem Augenblick durch das Brückentor herein dem Wagen nachstürzte.[/i] (Goethe: DuW I,1)
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 28.07.2007 um 12.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9815

Germanist schreibt "[...], hat die Wortform Partizip als Untermengen die beiden Wortarten Adjektiv und Verb (wobei das Adjektiv auch als Adverb verwendet werden kann)".

Beim besten Willen gibt es nicht die "Wortform Partizip", sondern nur die "Verbform Paritizip", die ihrerseits Flexionsformen haben kann. Wortformen ihrerseits können freilich nie Wortarten als Untermengen haben. Damit bräche jede wie auch immer angesetzte Morphologie zusammen.

Repetitio: Partizip I und Partizip II sind von Verb abgeleitete Formen mit disjunkter Distribution, was nicht heißt, daß jedes P I oder P II in den ihm zukommenden Postionen sinnvoll verwendbar ist. Vom System ist die Rede, nicht vom Gebrauch.

Durch die Integration adverbialer Spezifikationen oder die von Agens bzw. Patiens werden Partizipien zu Adjektivpartizipien und wechseln so die Wortart. Dazu stellt Germanist völlig zutreffend fest: "Folglich sind prädikative Verwendungen von Partizipien mit getrenntgeschriebenem Akkusativobjekt in den meisten Fällen Grammatikfehler." Ja, und zwar Falschschreibungen mit grammatischen bzw. semantischen Konsequenzen.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 12.08.2007 um 16.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#9961

David Konietzko wirft in (851#9803) die Frage auf:

"Könnte man nicht, wenn ein erstes Partizip als Prädikativ verwendet wird (sie ist reizend), auch von einem eigenständigen Adjektiv reden, das sich aus dem entsprechenden Partizip entwickelt hat?"

Dieses reizend ist freilich ein Adjektivpartizip, das sich wie spannend usw. semantisch so weit verselbständigt hat, daß es -- auch im Wörterbuch -- seine Herkunft verleugnen muß:
Wenn ein Gas reizend ist, darf es nicht ins Flugzeug, wenn eine Dame es ist, darf sie es sehr wohl.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2013 um 18.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=851#22909

Verschachtelte Linksattribute, besonders mit verschiedenen Präpositionen und Partizipien, führen todsicher in die Unverständlichkeit, und zwar sehr schnell, weil eben der Mensch in grammatischen Dingen ein schwacher Kopfrechner ist:

Diese Diskussion ging aus von der erneuten und vertieften Beschäftigung des Rats mit dem im Regelungsvorschlag von 2006 von den vom Rat initiierten Veränderungen nur am Rande berührten Bereich der Groß- und Kleinschreibung. (Abschlußbericht des Rates für deutsche Rechtschreibung 2010)

... die Reihenfolge, in der das mit den durch die inventorische Forschung gefundenen Stoffmomenten geschieht (Gert Ueding: Rhetorik des Schreibens. Königstein 1985:105)

Dabei kann auch der Verfasser leicht die Übersicht verlieren:

Der Hinduismus verlangt von seinen Anhängern lediglich den Glauben an eine in der durch die nachwirkende Kraft der Verschuldung und des Verdienstes sich immer wieder regulierende sittliche Ordnung der Welt. (Helmut von Glasenapp: Die fünf Weltreligionen. Kreuzlingen, München 2001:27)

(Hier geht eine der Präpositionen ins Leere. Finden Sie den Blindgänger!)
 
 

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